Eine Stadt würdigt Magie und Macht des Wortes

Wittlich · Anerkennung, Respekt, Bewunderung, Neugier, Verpflichtung: Das hat 1400 Menschen bewegt, zu einem Festakt ins Eventum zu kommen: Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller wurde mit dem Georg-Meistermann-Preis der Stiftung Stadt Wittlich ausgezeichnet. Danach waren viele Zuhörer selbst bewegt von den Worten der weltbekannten Autorin.

 Was macht der Mensch mit dem Menschen? Was tun gegen Unmenschlichkeit? Wie überleben? Das Publikum erlebt einen Festakt, der nachdenklich macht.

Was macht der Mensch mit dem Menschen? Was tun gegen Unmenschlichkeit? Wie überleben? Das Publikum erlebt einen Festakt, der nachdenklich macht.

Foto: Klaus Kimmling (m_wil )

Wittlich. "Oh, diese Frau, die einzige im Dorf, die so schöne Perlhühner hatte, die mit den schönen weißen Flecken. Die war auch allein. Sie hatte das Lager überlebt. Und sie war eine Frau, die ein Leben lang auf ihren Mann wartete, der vermisst war. Wenn das Gartentor ging, glaubte sie immer, er kommt." Der Mann kam nie mehr nach Hause. Mit der Frau in ihrem Heimatdorf im deutschsprachigen Rumänien hat Herta Müller als Kind viel geredet. Kirschen gegessen. Und sie und ihr Schicksal nicht vergessen. Auch wegen ihr hat sie darüber geschrieben, was das sein kann: Lager. Was das mit Menschen macht.
Existenzielles Schreiben


Daran will oder muss die 62-Jährige erinnern. Deshalb spricht sie darüber im Wittlicher Eventum. Über einige der vielen Menschen, die die heutige Literaturnobelpreisträgerin dazu brachten, ein Buch wie "Atemschaukel" zu schreiben. Herta Müller sagt: "Ich musste es machen, weil ich es auch vielen Leuten aus dem Dorf schuldig war."
Einem Dorf, in dem sie als Kind ganz allein die Kühe hütete. Drei Züge fuhren täglich vorbei. Beim dritten konnte das Mädchen nach Hause gehen. Über diese Kindheit, die Unterdrückung durch den rumänischen Geheimdienst und was das mit einem Menschen macht, über Ängste, über Freunde und das für sie existenzielle Schreiben spricht Herta Müller in Wittlich vor fast 1400 ihr unbekannten Menschen: Männern in Militäruniform, Schülern in Jeans, Politikern, Damen im Festtagskleid, Lehrern, Geschäftsleuten, Künstlerinnen, Kulturmachern, Paaren, Einsamen, sogenannten hohen Tieren, sogenannten kleinen Leuten. Bürgermeister Joachim Rodenkirch scheint bei der Begrüßung der offiziell Wichtigsten kaum ein Ende zu finden, so imposant ist seine Liste. Und beim Zuhören sind sie dann alle gleich.
Der Star, der keiner sein will


Sie alle sind gekommen, um Herta Müller zu sehen, zu erleben, sie vielleicht später um ein Autogramm zu bitten. Der Star des Abends will gar keiner sein. Die Autorin ist zunächst in Wittlich, weil die Stiftung der Stadt ihr den Georg-Meistermann-Preis verleiht (siehe Extra). Joachim Rodenkirch sagt davor: "Verehrte Frau Müller, so sind auch Ihre Bücher Mahnung gegen das Vergessen der traumatischen Diktatur-Erfahrungen in Europa. Sie erinnern an die Folgen von Unterdrückung, Erniedrigung und Isolierung des Menschen durch Menschen."
Und Laudator Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, betont: "Herta Müller ist unbeugsam und unbequem. Dafür wird sie kritisiert. Dafür wird sie angefeindet. Ob wir mit Herta Müller in allem übereinstimmen oder nicht, wir alle sollten ihr dafür dankbar sein, dass sie bis heute unbeugsam und unbequem geblieben ist. Wenn sie etwa Putin als Lügner, der sie krank macht, bezeichnet." Und er zieht den Schluss: "Aber nicht nur Diktaturen brauchen kritische Geister. Die Demokratien finden erst zu sich selbst, durch Widerspruch, durch Debatte und durch unbequeme Geister."
Dann bekommt dieser "unbequeme Geist" den Preis: sichtbar in Form einer großen Plakette und Urkunde. Das ist schnell passiert. Und die zierliche Herta Müller weiß gar nicht, wie sie die großen Ehre einfach nur festhalten soll, als sie auf der Bühne steht. Vor diesem symbolischen Akt scheint sie am liebsten seitlich der drei großen Herren (Bürgermeister, Laudator und Kuratoriumsvorsitzender Hermann Simon) verschwinden zu wollen. Martin Schulz schiebt sie dann sacht vom Bühnenrand ins Zentrum. Ihre ersten Worte: "Ja, ich möchte den Preis den Leuten zukommen lassen, die heute in unser Land fliehen müssen, damit das Geld für die verwendet werden kann."
Dann erinnert sie an Hitlers Machtübernahme und die Folgen für die Menschen, für die Kunst. Sie sagt: "Ich kenne die tägliche Angst, die Drohungen aufgeblasener Staatsnullen und wie die Ohnmacht vor der Macht wächst. Ich kenne auch den Verrat. Mit immer mehr Leuten will man nichts mehr zu tun haben."
Das alles sagt sie ohne Pathos, weder laut noch besonders leise, sondern glaubhaft, ganz unmittelbar. Sie stellt es irgendwie fest. Was Menschen Unmenschliches tun und erleiden. Darum geht es auch im Gespräch mit ihrem langjährigen Freund, dem Autor und Leiter des Literaturhauses Berlin, Ernest Wichner. Und die Menschen, die ihr zuhören, wissen nun, nicht alles ist so poetisch, wie es klingt. "Der weiße Hase" ist kein abstraktes Bild für Hunger, sondern ein Begriff der Menschen im Lager: für das weiße Haar, das an den Wangen wuchs, bevor jemand verhungert ist.
Weiterer Bericht siehe
Extra

Christina Rau nahm als Erste den Georg-Meistermann-Preis der Stiftung Stadt Wittlich 2006 stellvertretend für ihren verstorbenen Mann, Bundespräsident Johannes Rau, entgegen. Weitere Preisträger: Charlotte Knobloch, seinerzeit Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz, Ex-Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Der Preis ist mit 10 000 Euro für einen guten Zweck dotiert. Dazu gibt es eine Urkunde und eine Bronze-Plakette. Mit der Auszeichnung soll an Georg Meistermann (1911 bis 1990) Maler, Zeichner, Grafiker und sein Eintreten für Demokratie und Meinungsfreiheit erinnert werden. sosExtra

 Kuratoriumsvorsitzender Hermann Simon und Vorstandsvorsitzender Joachim Rodenkirch überreichen Herta Müller den Georg-Meistermann-Preis.

Kuratoriumsvorsitzender Hermann Simon und Vorstandsvorsitzender Joachim Rodenkirch überreichen Herta Müller den Georg-Meistermann-Preis.

Foto: Klaus Kimmling (m_wil )

Herta Müller, 1953 in Rumänien geboren, studierte deutsche und rumänische Philologie. Sie arbeitete 1973 bis 1976 als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. Weil sie nicht für den rumänischen Geheimdienst Securitate tätig werden wollte, wurde sie entlassen und war Bedrohungen ausgesetzt. 1982 erschien zensiert ihr erstes Buch "Niederungen". 1987 kam die Autorin nach Deutschland. Sie lebt in Berlin. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen und 2009 den Literaturnobelpreis. sos

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