"Gift für mehr Beschäftigung"

BERLIN. Der Streit über längere Arbeitszeiten hält an. Nach der Forderung über die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche stellen Industrie und Politik auch den arbeitsfreien Sonnabend zur Disposition. Unsere Zeitung sprach darüber mit dem Tarifexperten Reinhard Bispinck.

Wie flexibel sind die Gewerkschaften, wenn es um längere Arbeitszeiten geht? Bispinck: Bei der aktuellen Diskussion wird vergessen, dass die Tarifverträge in zahlreichen Branchen längst flexible Arbeitszeiten zulassen. Paradebeispiel ist die chemische Industrie. Aber auch der jüngst abgeschlossene Tarifvertrag bei VW garantiert Arbeitszeitkonten, die zwischen plus minus 400 Stunden liegen können. Gesamtmetall-Präsident Kannegießer rennt also offene Türen ein, wenn er einen Arbeitszeitkorridor zwischen 30 und 40 Wochenstunden fordert? Bispinck: Richtig. Das haben wir längst, aber nicht um jeden Preis. In der Metallbranche kann die Arbeitszeit auf bis zu zwei Jahre verteilt werden. Damit lässt sich über Monate hinweg locker 40 Stunden pro Woche arbeiten. Übrigens auch am Sonnabend, der deshalb aber nicht zum Regelarbeitstag werden darf. Was Kannegießer möchte, ist, nur diesen Rahmen im Tarifvertrag zu haben. Alles andere soll der Betrieb regeln - eine Arbeitszeitverlängerung im Zweifel auch ohne zusätzliches Geld. Auch das wollen die Gewerkschaften nicht. Wäre eine generelle Einführung der 40-Stunden-Woche sinnvoll? Bispinck: Das wäre Gift für den Arbeitsmarkt, weil eine dauerhafte Arbeitszeitverlängerung die Verschlechterung der Chancen für Arbeitslose bedeutet. In der Praxis arbeiten die Beschäftigen ohnehin durchschnittlich knapp 40 Stunden in der Woche. Damit liegt Deutschland im europäischen Durchschnitt. Würde überall wieder die 40-Stunden-Woche als Standard gelten, dann würde auch dieser Standard überschritten werden. Insofern haben Tarifverträge eine Ankerfunktion. BDI-Chef Rogowski schwebt offenbar eine Arbeitszeit wie in den 70er Jahren vor. Bispinck: Ein Vollzeitbeschäftigter hat 1970 rund 1900 Stunden gearbeitet. 2003 waren es 1600 Stunden. Gemessen daran müsste ein Arbeitnehmer damit etwa acht Wochen im Jahr länger arbeiten als jetzt. Ich frage mich, wie so neue Beschäftigung geschaffen werden soll. Aber längere Arbeitszeiten würden die Arbeitskosten verringern und die Wettbwerbsfähigkeit erhöhen. Bispinck: Bezogen auf den einzelnen Betrieb stimmt das, aber nicht im Hinblick auf die Volkswirtschaft. Denn sobald diese Strategie von allen Wettbewerbern gefahren wird, gibt es einen Wettlauf ohne Sieger. Ich erinnere an den Tarifabschluss bei Siemens, der an zwei Standorten eine Aufstockung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 40 Stunden vorsieht. Danach setzte eine Debatte in unseren Nachbarländern ein, ihre Arbeitsstandards entsprechend anzupassen. Im Übrigen gibt es auch Branchen, in denen die Arbeitszeitverlängerung von vorn herein dem Arbeitsplatzabbau dient. Haben Sie ein Beispiel dafür? Bispinck: Ja, den öffentlichen Dienst. Verlängert man hier die wöchentliche Arbeitszeit flächendeckend auf 42 Wochenstunden, kostet das 150 000 Arbeitsplätze. Die Fragen stellte Stefan Vetter.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort