Vorbilder, Rivalen, Vertraute

Beziehungen zwischen Geschwistern sind urwüchsiger und viel spontaner als alle anderen Beziehungen, die es im Leben eines Menschen gibt. Die Liebe zwischen ihnen kann grenzenlos sein, aber auch in Hass und Neid umschlagen. Mit dem besonderen Kräftefeld zwischen Geschwistern beschäftigt sich die Wissenschaft seit Jahrzehnten und fördert für Eltern nicht immer nur Angenehmes zutage.

Mal ehrlich: Haben Sie ein Lieblingskind? Nein? Doch! Aber wer gibt schon gerne zu, dass ihm ein Kind lieber ist als das andere? Keiner. Dabei, so sagt nicht nur Geschwisterfachmann Joachim Armbrust, habe jeder ein Lieblingskind. Zahlreiche Studien und Forschungen belegen dies. Ob man es als Eltern möchte oder nicht, die Kinder spüren das. Mehr oder weniger. Der Fachmann Armbrust erläutert: "Eltern haben zu jedem Kind eine andere Bindung, weil eben auch jedes ein Individuum für sich ist. Dadurch, dass der Nachwuchs sich einfach voneinander unterscheidet, dadurch entsteht eine unterschiedliche Nähe."

Das prägt natürlich auch die Beziehungen der Kinder untereinander. Besonders intensiv kann die Bindung zu einem der Kinder werden, wenn Schwangerschaft oder Geburt problematisch war, wenn es schwer krank wird. Wirkt sich dies negativ auf die Beziehungen zu den Geschwistern aus, sollten Eltern versuchen, allen verständlich zu machen: Wir haben alle gleich lieb, und jeder hat seinen Platz in der Familie. Am besten sagen und zeigen Mütter und Väter ihrem Nachwuchs, dass es so ist - mit liebevollen Worten und mit intimen Gesten wie "in den Arm nehmen". Wichtig sind zudem Zeit und Aufmerksamkeit. Und vor allem gilt grundsätzlich: Zufriedene Mütter und Väter bringen zufriedene Kinder hervor.

Streit unter Geschwistern ist wichtig. Es gibt kein Patentrezept für ein Verhältnis ohne Zoff. "Indianer sind entweder auf dem Kriegspfad oder rauchen die Friedenspfeife. Geschwister können beides." Dieses Zitat von Kurt Tucholsky beschreibt das fragile Verhältnis zwischen Brüdern und Schwestern sehr gut.

"Die größte Angst des Kindes ist es, seine Eltern zu verlieren, und am zweitgrößten ist die Angst, dass es keine Liebe mehr erhält."

Geschwister bilden die erste soziale Gruppe, in der man lernen muss, mit den Nuancen von Nähe, Ablehnung, Konkurrenz, Konflikt und Versöhnung umzugehen. Diese Bindungen lassen sich nicht kündigen wie die zu Freunden etwa. Der Schweizer Psychologe und Geschwisterexperte Jürg Frick umschreibt es so: "Ein Schatz an Gefühlen, Denkmustern und Handlungsstrategien, den man mit Geschwistern entwickelt, der wird zum Grundmuster für den Umgang mit der Welt." (mehr zum Thema Streiten siehe Interview Seite 10) Rein biologisch gesehen sind Geschwister nämlich Rivalen. Sie sind Konkurrenten um die Zuneigung und Fürsorge der Eltern. Zu Recht, wie US-Studien belegen: 15 000 Kinder zwischen dem vierten und 13. Lebensjahr wurden in ihren Tagesabläufen dokumentiert. Heraus kam: Der Erstgeborene verbrachte durchschnittlich 3000 Stunden mehr Zeit mit Vater und Mutter als die Geschwister.

Um noch einmal auf den biologischen Aspekt zurückzukommen: Geschwister ähneln sich im Prinzip nicht mehr als Kinder, die in verschiedenen Familien aufwachsen. Diese Erkenntnis verwundert viele, jedoch haben sie auch maximal eine genetische Übereinstimmung von 50 Prozent. Forschungen haben gezeigt, dass selbst eineiige Zwillinge, die getrennt voneinander aufwachsen, sich viel mehr im Wesen, der Lebensart und in ihren Vorlieben gleichen als solche, die in einer Familie gemeinsam groß werden. Der Grund ist schlicht, dass sie in der Familie rivalisieren, im ständigen Wettstreit um die Zuwendung der Eltern liegen. Forscher und Experten sind sich einig: Jedes Kind muss sich von den anderen abgrenzen, um so seine persönliche Nische zu finden, die ihm keiner streitig machen kann. Da ist beispielsweise die musikalisch total begabte Schwester, der Bruder dagegen ist ein Mathematikgenie. "Jedes Kind hat seine Neigungen und seine Stärken. Die gilt es von den Eltern hervorzuheben und zu unterstützen", sagt Armbrust, der in seinem Buch "Geschwisterstreit - Konfliktstrategien für Eltern" erläutert, was Väter und Mütter tun können, damit die "normale Rivalität" nicht aus den Fugen gerät. Dahinter stecken laut Armbrust gute Gründe: "Die größte Angst des Kindes ist es, seine Eltern zu verlieren, und am zweitgrößten ist die Angst, dass es keine Liebe mehr erhält."

"Gerechtigkeit besteht nicht in Gleichbehandlung"

Dabei warnt er: "Gehen Sie auf keinen Fall mit den Kindern gleich um, denn jedes Kind ist anders." Gerechtigkeit bestehe nicht in Gleichbehandlung. "Man muss auf das Wesen des Kindes eingehen und das individuell", sagt der Spezialist. Unterschiedliche Bedürfnisse erfordern unterschiedlichen Umgang mit dem jeweiligen Kind.

Was ist der ideale Abstand?


Vielfach wird gefragt, ob es einen idealen Abstand gibt, in dem man Kinder bekommen sollte. Drei Jahre Unterschied sei gut, sagen die einen. Dazu gehört der Psychologe Hartmut Kasten, Autor vieler Bücher zum Thema Erziehung, Geschwister und Lebenseinstellungen. Mit drei Jahren sei das Erstgeborene bereits in der Entwicklung so weit, dass es sich "alleine" etwa im Kindergarten beschäftigen kann, wenn ein Geschwisterchen kommt. Es kann erste soziale Kontakte außerhalb der Familie haben und fühlt sich so nicht zurückgesetzt. Ein Kind hat laut Kasten in diesem Alter bereits eine gewisse Reife. Totaler Blödsinn sagen die anderen, wie Joachim Armbrust. Schließlich liege es auch an den Frauen und ihrer Konstitution, ob und wie schnell sie ein Geschwisterkind wollen. Armbrust dazu: "Hier gibt es keine Patentlösung, denn so individuell und verschieden die Eltern sind, ihre Lebensumstände und ihre Einstellung, so schwer ist es, eine Regel zu erschaffen, wann der Abstand perfekt ist, ein zweites oder drittes oder mehr Kinder zu bekommen."


Zur Person


Joachim Armbrust ist Diplomsozialpädagoge und Heilpraktiker mit Schwerpunkt Psychotherapie. Der Familienvater war acht Jahre in der Erziehungs- und Familienberatungsstelle des Caritasverbandes tätig. Anschließend arbeitete er als Sexualpädagoge bei Pro Familia. Danach war er sieben Jahre Beauftragter für Suchtprophylaxe und später Projektkoordinator der Online-Beratungsplattform bei der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. Der 55-Jährige hat seine Praxis in Schwäbisch-Hall.

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