Schlittenfahrt mit Hindernissen/Nachkriegszeit

Es war Winter geworden. Na gut, wenn’s denn sein musste.

Ich gebe zu, dass eine innige Freundschaft zwischen mir und dem Letzten im Jahreszeitenquartett nie zustande gekommen ist und es mit Sicherheit auch in Zukunft keine geben wird. Deshalb hielt sich meine Begeisterung für eigene Aktivitäten in der eis- und schneeverwöhnten Natur meiner Kindheit sehr in Grenzen. Schlittenfahren - gerne! Wenn es dabei nur nicht so kalt gewesen wäre. Kalte Hände, kalte Füße, rote Ohren, eine triefende Nase - nein danke. Da bevorzugte ich den weitaus angenehmeren Aufenthalt in der wohlig warmen Wohnküche. Langeweile kannte ich ohnehin nie. Außerdem konnte ich vom Fenster aus beobachten, wie sich viele - weit weniger zimperliche - Kinder aus meinem Heimatdorf bei ihren zum Teil rasanten Abfahrten vergnügten.
Auch meine Schwester Karin war an einem dieser frostigen Sonnentage bereits unterwegs zu ihnen. Plötzlich war ich hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, an diesem fröhlichen Treiben teilzunehmen und der Furcht vor hämisch lauernder Kälte. Diesmal siegte der Mut! Meine Mutter traute ihren Ohren kaum. Eine halbe Stunde zuvor hatte sie noch vergebens mit Engelszungen auf mich eingeredet, mich an diesem Rodelspaß zu beteiligen. Und nun dieser Sinneswandel! Rasch half sie mir beim Ankleiden. Warme Strümpfe, hohe Schnürschuhe, Mantel und Schal, die gefürchtete, kratzige Wollmütze und die handgestrickten Fäustlinge gehörten zu meiner "Wintersportausrüstung". Von wegen Anorak, gefütterte Stiefel und wärmende, lange Hosen! Letztere waren nur Jungen erlaubt. Mädchen trugen Röcke.
Stolz auf mich selbst zog ich einen altehrwürdigen Schlitten hinter mir her und versuchte, nicht in tiefe Schneeverwehungen abzurutschen. Es war nur ein kurzer Fußmarsch bis zur Rodelbahn. Allerdings musste ich einmal die Landstraße überqueren. Keine Bange! Als Kind freute ich mich, wenn dort einmal ein Auto zu sehen war. Heute freue ich mich, wenn mal keins kommt! Unglaublich - es machte wirklich Spaß, an den im Herbst neu angepflanzten Apfelbäumchen vorbeizufahren, der Aufstieg natürlich weniger. Ein paarmal noch rief ich begeistert: "Bahn frei!" Mein Tempo hielt sich dann aber sehr in Grenzen. Karin bremste längst nicht so oft wie ich, der Neuling und Angsthase.
Plötzlich war's passiert. Meine Schwester hatte die Bahn verfehlt. Ein Apfelbäumchen war auf sie zugerast - oder eher umgekehrt. Wer hatte hier wen umgemäht? Beide boten ein trauriges Bild im Schnee. Karin weinte vor Schmerzen und humpelte mit dem heftig angeschlagenen Knie heimwärts. Es gelang mir nicht, sie auf dem Schlitten zu transportieren. Der kurze Heimweg kam uns nun unendlich lang vor. Ich weinte aus Solidarität mit ihr, aber auch deshalb, weil jetzt die Kälte mehr und mehr in mir hochkroch.
Meine Mutter suchte sofort mit der Verletzten unsern Hausarzt auf, dessen Praxis schräg gegenüber unserer Wohnung lag. Währenddessen taute ich in der warmen Küche langsam wieder auf. Bis dahin wusste ich nicht, dass "Auftauen" so wehtun kann. Am nächsten Tag ließ der geschädigte Landwirt - einer der reichsten aus unserem Dorf - bei unserer Mutter seinem verständlichen Ärger lautstark freien Lauf. Er beklagte nur sein entwurzeltes Bäumchen. Karins Knie interessierte ihn nicht.
Wie soll ich nun, nach all den vielen Jahren, meiner Wintergeschichte eine versöhnliche Note geben? Hmm … . Er hätte ja sein Apfelbäumchen nicht unbedingt auf seinem Grundstück in unsere Rodelbahn pflanzen müssen.

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