Migrationsexperte Gerald Knaus „Kinder und Frauen müssen sicher untergebracht werden“

Interview | Berlin · Der Migrationsexperte Gerald Knaus nennt den russischen Angriff auf die Ukraine das „schlimmstmögliche Szenario“. Der Leiter der Europäischen Stabilitätsinitiative rechnet damit, dass sich viele Menschen aus der Ukraine auf den Weg in die EU machen werden, und appelliert dringend, die Visafreiheit für Ukrainier aufrechtzuerhalten. Er sieht Europa vor einer Bewährungsprobe.

Gerald Knaus gilt als Architekt des EU-Türkei-Deals. Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine appelliert er dringend an die europäische Solidarität.

Gerald Knaus gilt als Architekt des EU-Türkei-Deals. Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine appelliert er dringend an die europäische Solidarität.

Foto: picture alliance/dpa/Francesco Scarpa

Herr Knaus, die Europäische Union und auch Deutschland stellen sich auf mögliche Fluchtbewegungen aus der Ukraine ein. Wie verändert der russische Einmarsch die Lage?

Knaus Diese Art des Einmarsches, die von der amerikanischen Regierung detailgenau hervorgesagt wurde und die trotzdem niemand glauben wollte, ist das schlimmstmögliche Szenario. Es kann zu Kämpfen in den ukrainischen Städten komme. Denn Putin strebt ganz offensichtlich einen Regimewechsel in Kiew an und will, wie er das bezeichnet hat, die Ukraine „entnazifizeren“. Das bedeutet in jedem Fall eine grauenhafte Entwicklung. Man hat noch die Bilder von Putins früheren Kriegen im Kopf – von Tschetschenien, von der Ostukraine und auch vom Einsatz der russischen Luftwaffe gegen Spitäler in Syrien. Ein solches Szenario droht jetzt mitten in Europa.

Wird es zu großen Fluchtbewegungen kommen? 

Knaus Man muss jetzt davon ausgehen, dass es zu Fluchtbewegungen kommen wird, zumindest für Kinder und Frauen. Dabei muss man Dimensionen im Auge behalten: Kiew hat so viele Einwohner wie Bosnien-Herzegowina, die Ukraine ist eines der bevölkerungsreichsten Länder Europas. Andererseits hat der bisherige Krieg in der Ostukraine der zurückliegenden acht Jahre vor allem zur Flucht innerhalb des Landes geführt – es gab mehr als eine Million Binnenflüchtlinge, drei Millionen Ukrainer sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Allerdings waren diese Kämpfe lokal begrenzt. Heute muss man befürchten, dass viele Menschen aus der Ukraine flüchten könnten.

Was folgt daraus? Wie sollten Deutschland und die EU kurzfristig reagieren?

Knaus Dieses Schlimmstmögliche aller Szenarien, über die man in den letzten Monaten nachgedacht hat, zieht drei Konsequenzen nach sich: Erstens muss die Europäische Union weiterhin versuchen, möglichst schnell durch möglichst klare Sanktionen gegen Putin den Konflikt einzudämmen. Das kann auch scheitern. Deswegen muss man zum Zweiten klarmachen, dass die EU der Ukraine nicht in den Rücken fällt. Es wäre ein Dolchstoß für die Ukraine, etwa die bestehende Visafreiheit in Frage zu stellen. Die Visafreiheit für Ukrainer muss unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben. Das bedeutet, drittens, dass wir es mit einer ganz anderen Flucht zu tun bekommen könnten als in den letzten Jahren. Ukrainer können mit ihren Pässen legal in die EU einreisen. Man muss sich daher in der gesamten EU darauf vorbereiten, eine größere Zahl zumindest temporär aufzunehmen. Diese Art der Kriegsführung ist das Schlimmstmögliche aller Szenarien, über die man in den letzten Monaten nachgedacht hat.

Lässt sich beziffern, mit welcher Zahl von Flüchtlingen Sie in welchem Zeitraum rechnen?

Knaus Zahlen kann man nicht nennen, das ist unmöglich vorherzusagen. Wir wissen nicht, wie sich dieser Angriffskrieg Russlands weiterentwicklen wird. Wir wissen nicht, wie schnell und wohin sich die russischen Truppen bewegen werden und was in den Städten in der Ukraine passieren wird. Aus Syrien, wo seit vielen Jahren ein Krieg stattfindet, wissen wir das innerhalb der ersten vier Jahre mehrere Millionen Menschen in die Nachbarländer geflohen sind. Diese Nachbarländer hatten damals noch offene, und so konnten die Menschen in großer Zahl in die Türkei, nach Jordanien, in den Libanon kommen. Angesichts der Solidaritätsbekundungen an die Ukraine muss die Europäische Union nun Ukrainer auch wirklich aufnehmen – so wie es etwa Kolumbien mit Bürgern Venezuelas tat. Menschen dürfen an EU-Grenzen auf keinen Fall abgewiesen werden, wenn sie hier Schutz suchen.

 Unterkünfte für Flüchtlinge, Verteilung unter den Ländern – wie sollten die Vorbereitungen in Deutschland nun ganz konkret aussehen?

Knaus Als die ersten syrischen Flüchtlinge nach 2011 in die Türkei kamen, wurden dort zunächst große Flüchtlingslager aufgebaut, um Menschen temporär unterzubringen. Das war keine dauerhafte Lösung, aber ein erster Schritt zur humanitären Versorgung. Wenn in den nächsten Monaten tatsächlich Hundertausende Menschen aus der Ukraine fliehen sollten, muss die EU in der Lage sein, diese Menschen unterzubringen. Das ist auch ein weiterer Testfall für die europäische Solidarität. Es wäre undenkbar, solche Lager nur in den Nachbarländern der Ukraine – in Polen, der Slowakei, Ungarn oder Rumänien – zu errichten. Möglichst viele europäische Länder sollten sich dann aufnahmebereit zeigen. Auch Kanada oder die Vereinigten Staaten von Amerika könnten die Aufnahme unterstützen, wenn es zu großen Flüchtlingszahlen kommen sollten. Das muss sofort vorbereitet werden.

Die EU hat sich in dem Konflikt bisher geschlossen gezeigt. Haben Sie die Hoffnung, dass dieser Krieg die EU enger zusammenschweißt und es Fortschritte bei der gemeinsamen Migrationspolitik gibt? 

Knaus Das muss die Hoffnung sein. Es bricht mit diesem Angriff eine neue Epoche der europäischen Geschichte an – dessen müssen sich europäischen Regierungen bewusst werden. Man wagt nicht, sich vorzustellen, wie Europa heute dastünde, wenn noch immer Donald Trump im Weißen Haus säße. Trump zeigt in diesen Tagen erneut dass er sich besser mit Putin verstehen würde als mit den demokratischen Regierungen in Europa. In der jetzigen Situation sind die Europäer noch mehr auf einander angewiesen. Putins Drohungen gingen ja auch gegen die baltischen Staaten, gegen Finnland oder Polen. Europa muss zusammenrücken. Die Bewährungsprobe steht jetzt an.

Auf welche ersten Schritte hoffen Sie? 

Knaus Eine zentrale Frage ist etwa, ob man den baltischen Vorschlag im Europarat berücksichtigt und Russland dort schnell suspendieren wird. Das ist ein symbolischer Schritt, aber ein sehr wichtiger. Der Europarat ist ein Club der Demokratien, der nach dem zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, um die friedliche europäischen Integration anzutreiben. Wenn Russland trotz der Angriffe auf die Ukraine Mitglied bleibt, würde der Europarat und seine angegliederten Institutionen, wie der Europäische Menschengerichtshof, jegliche Glaubwürdigkeit verlieren. Das wäre ein fatales Zeichen der Schwäche. 

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort