Terrorangst vor der Fußball-EM: Wie Frankreich für den Ernstfall probt

Paris · Frankreich fürchtet nicht erst seit den Aussagen des Terrorverdächtigen Mohamed Abrini einen Anschlag bei der Fußball-EM. Besonders gefährdet sind die Fan-Zonen, vor allem in Paris.

Dutzende Zuschauer liegen in weiße Schutzanzüge gehüllt auf den grasgrünen Bänken des Fußballstadions Geoffroy-Guichard in Saint-Etienne. Feuerwehrleute mit Atemmasken kümmern sich um die Verletzten, die Ziel eines Terrorangriffs mit Chemiewaffen wurden. Das Szenario ist nur eine Übung, an der Anfang April hunderte Freiwillige teilnahmen. Doch sie zeigt, wie groß die Angst vor einem Anschlag auf die Fußballeuropameisterschaft in Frankreich ist. Dass die französisch-belgische Terrorgruppe, die im November in Paris und im März in Brüssel zuschlug, die EM im Visier hatte, enthüllen erste Aussagen des mutmaßlichen Attentäters Mohamed Abrini.

"Nach unseren Informationen hat Mohamed Abrini erläutert, dass das ursprüngliche Ziel der nebulösen französisch-belgischen Dschihadistengruppe die Fußball-EM war", schreibt die französische Zeitung "Libération" am Montag. Ein Bekenntnis, das Experten nicht überrascht. "Sicherheitskräfte arbeiten ständig Anschlagszenarios aus und die Reaktion darauf", zitiert die Zeitung französische Polizeikreise. "Wenn die Aussagen Abrinis richtig sind, zeigt das nur, dass Belgien ein Rückzugsgebiet ist, das noch genauer überwacht werden muss."

Hollande verspricht "maximale Sicherheit"

Der französische Präsident François Hollande hatte für die EM "maximale Sicherheit" versprochen. Der bekennende Fußballfan kennt den Horror im Stadion. Er war im Stade de France gewesen, als sich am 13. November beim Freundschaftsspiel Frankreich-Deutschland ein Terrorkommando vor den Eingängen in die Luft sprengte. Es folgten praktisch im Minutentakt Angriffe auf Pariser Bars und den Konzertsaal Bataclan. Doch trotz der 130 Toten stellte der Staatschef schnell klar: die EM wird wie geplant stattfinden.

Für die französischen Sicherheitskräfte, die ohnehin in höchster Alarmbereitschaft sind, ist das Sportspektakel die größte Herausforderung ihrer Geschichte.
"Das Image Frankreichs steht auf dem Spiel. Unsere Fähigkeit, solche wichtigen Ereignisse mit Ernsthaftigkeit, Ruhe und Entschlossenheit zu organisieren", sagte Sportminister Patrick Kenner bei der Vorstellung der Sicherheitsvorkehrungen. Die Mammutaufgabe besteht darin, einen ganzen Monat lang ab dem 10. Juni 51 Spiele in zehn Städten zu überwachen.

Dabei setzen die Sicherheitskräfte auf die doppelte Kontrolle der Fans, wie sie schon beim Freundschaftsspiel gegen Russland Ende März im Stade de France praktiziert wurde. Private Sicherheitsleute inspizierten da schon vor den eigentlichen Kontrollen am Eingang Taschen und Jacken der Zuschauer. In den Stadien selbst übernimmt während der EM der europäische Fußballverband UEFA die Verantwortung für die Sicherheit.

Kritik an Fan-Zone am Eiffelturm

Doch die Gefahr könnte eher außerhalb lauern. Zumindest fürchtet das der frühere
Polizeichef Frédéric Péchenard, der inzwischen Generaldirektor der konservativen Republikaner von Nicolas Sarkozy ist. Er warnt insbesondere davor, direkt unter dem Eiffelturm auf dem Marsfeld eine Fan-Zone einzurichten, in der bis zu 100.000 Menschen die Spiele mitverfolgen können. "Das bedeutet, den Terroristen die Möglichkeit für ein Massaker zu bieten", kritisiert Péchenard im Fernsehen.

"Man muss die Fan-Zonen in Paris verbietet", fordert der einstige "Oberpolizist". Seine Republikaner stimmten deshalb Ende März im Stadtrat gegen das Public Viewing am Eiffelturm. Doch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo verteidigt das Projekt, das aus der EM "ein großes Fest für möglichst viele Leute" machen soll. Einen Platz wie das Marsfeld, wo die Fans unter strengen Sicherheitsvorkehrungen zusammen Fußball schauen können, zieht die Sozialistin vielen kleinen Ansammlungen vor. Ganz verbieten will auch Péchenard das Public Viewing nicht. "Das hängt von der Art der Fan-Zone ab, wie sie geschützt ist und wo sie liegt."

In Nîmes und Bordeaux wurden bereits Anschläge auf Fans beim Public Viewing simuliert. Eine weitere Übung findet am Donnerstag in Toulouse statt: da sollen die Rettungskräfte gleich drei Angriffe gleichzeitig bewältigen - auf den Flughafen, das Stadion und die Fan-Zone.Meinung

Die Freiheit verteidigen
Es geht um viel mehr als Fußball, wenn am 10. Juni im Stade de France das Spiel Frankreich gegen Rumänien angepfiffen wird. Die EM ist seit den Anschlägen vom 13. November mehr als ein sportliches Ereignis. Sie ist ein Zeichen des Widerstands gegen den Terrorismus. Denn die Attentäter von Paris und Brüssel hatten nicht nur Kneipen und Konzertsäle, sondern auch Stadien im Visier. Das zeigen die jüngsten Aussagen des Terrorverdächtigen Mohamed Abrini. Stadien als Orte der Lebensfreude. Wer die schwer bewaffneten Soldaten und Polizisten sieht, die über die Spiele wachen sollen, dem kommen daran Zweifel. Beklommenheit herrscht sogar unter eingefleischten Fußballfans. Ein unbeschwertes Fußballfest wird die EM 2016 sicher nicht. "Nous sommes unis" - wir sind vereint - rief die Welt im November Richtung Paris. Ab dem 10. Juni ist der Moment gekommen, diese Solidarität auch zu zeigen. In den Stadien, beim Public Viewing, auf den Straßen und in den Kneipen. Frankreich tut alles, um die Spiele abzusichern. Seit Wochen üben die Rettungskräfte die Reaktion auf einen möglichen Anschlag. 10.000 private Sicherheitskräfte und Videokameras sollen die Fans zusätzlich bewachen. Nur eines kommt für die Regierung nicht in Frage: die EM abzusagen. Sicher, jedes der 51 Spiele ist riskant. Rund 2,5 Millionen Zuschauer werden allein in den Stadien erwartet. Und nicht jeder von ihnen kann persönlich geschützt werden. Doch mit einer Absage hätten die Terroristen gewonnen. Und genau das will Frankreich verhindern. Es geht um die Freiheit. Die Freiheit, Fußball zu gucken, ins Konzert zu gehen, ein Glas Wein in einer Kneipe zu trinken. Frankreich bietet alles auf, um diese Freiheit zu verteidigen. Es verdient dafür Anerkennung - nicht nur von den Fußballfans. Christine Longin

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort