Vom Schicksal eines Schicksallosen

Budapest · Zuletzt war es stiller geworden um Imre Kertesz. Der schwerkranke Autor hatte sich in seine Geburtsstadt Budapest zurückgezogen. "Ich bin sehr müde", sagte der Literaturnobelpreisträger 2013. Jetzt ist der große Erzähler gestorben.


Budapest. Die Hölle in zwei Sätzen zusammengefasst: Im Alter von 14 Jahren wurde der in Budapest geborene Imre Kertesz 1944 nach Auschwitz deportiert, zusammen mit Tausenden anderen ungarischen Juden. Später kam er noch nach Buchenwald und in das Nebenlager Zeitz. Die Zeit im KZ: Sie sollte Leben und Werk von Kertesz prägen. Im "Roman eines Schicksallosen" legte er auf verstörende Weise Zeugnis davon ab. 2002 wurde er dafür mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Am Donnerstag ist Kertesz in Budapest verstorben — nach langer Krankheit im Alter von 86 Jahren.
Überlebender des Holocaust


Obwohl er noch viele andere Texte verfasste und der "Roman eines Schicksallosen", der 1996 in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, eingebettet ist in eine "Tetralogie der Schicksallosigkeit", zu der auch die Bände "Fiasko"(1988), "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind"(1990) und "Liquidation" (2003) gehören, ist es dieses eine Buch, das Kertesz' Weltruhm begründete.
Auch andere Schriftsteller von Rang wie Primo Levi und Jorge Semprun haben von ihrem Leben im KZ berichtet, aber Kertesz schlägt in seinem Roman, an dem er 13 Jahre lang arbeitete und der erst 1975 in Ungarn erscheinen durfte, ganz unerhörte Töne an. Die Beobachtungen des jugendlichen Ich-Erzählers sind frei von moralischer Empörung und psychologischer Begründung. Staunend, unwissend, aber neugierig nimmt er die Welt der Massenvernichtung wahr. Sein Ich verschwindet hinter einer quasi-objektiven Wahrnehmung des Grauens um ihn herum, das er emotionslos schildert.
Schicksallosigkeit ist für Kertesz ein anderer Ausdruck für die Fremdbestimmtheit des Menschen unter totalitären Bedingungen. Ein Schicksal kann nur haben, wer die Freiheit der Wahl hat. Diese Freiheit konnte es nicht geben in der Vernichtungsmaschinerie des NS-Systems.
Die erhebliche Einschränkung der Freiheit im kommunistischen Ungarn der Nachkriegszeit hat Kertesz ebenfalls erfahren und durchlitten. Nach dem niedergeschlagenen Ungarn-Aufstand von 1956 durfte er als Schriftsteller und Übersetzer, der sich vor allem mit deutscher Literatur befasste, nur noch eingeschränkt publizieren. In dem Roman "Fiasko" schildert er die Existenzbedingungen eines Schriftstellers in einer bürokratischen Diktatur und die verwickelte Entstehungsgeschichte seines Hauptwerkes, um die auch die im "Galeerentagebuch" (1991) versammelten Aufzeichnungen kreisen.
Als Gastredner des Bundestages las Imre Kertesz am 29. Januar 2007, anlässlich des Gedenktages der Befreiung von Auschwitz, aus "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind". Es ist der Monolog eines Holocaust-Überlebenden, der kein Kind in diese Welt setzen will; auch dies ein kaum verkapptes Selbstbekenntnis.
Kertesz, der neben dem Nobelpreis noch zahlreiche andere Auszeichnungen erhielt, lebte von 2001 bis 2012 mit seiner zweiten Frau Magda in Berlin-Charlottenburg. Seiner Liebe zur deutschen Sprache und Kultur tat die Erfahrung von Auschwitz keinen Abbruch. Mehrmals übte er in den vergangenen Jahren Kritik an der jüngeren Entwicklung in Ungarn, warnte vor Geschichtsvergessenheit und einem wiedererstarkten Antisemitismus.
Nicht zuletzt aufgrund einer rapide fortschreitenden Parkinson-Erkrankung kehrte er Ende 2012 nach Budapest zurück. Seine bislang letzte Veröffentlichung, das Tagebuch "Letzte Einkehr" (2013), trägt Züge von Verbitterung. Er beklagt sich darüber, den "Holocaust-Clown" gespielt zu haben, und bekennt: "Ich bin es leid, zur Institution geworden zu sein."
Bis zum Schluss blieb Kertesz ein Freund des Widersprüchlichen. Im Herbst soll ein letzter Tagebuchband "Der Betrachter — Aufzeichnungen 1991-2001" in Deutschland erscheinen. "Das Leben ist banal, katastrophal und schön", lautete sein Credo. "Ich habe alles gehabt, alles, was ich wollte", sagte er 2013 der Zeit. Wenige Zeilen zuvor beklagte er, zum 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz, bei der die Nazis über die Auslöschung der europäischen Juden berieten, nicht in die Wannsee-Villa gegangen zu sein. Warum? "Das ist doch eine Karriere, von Auschwitz bis zu dem Platz, an dem Göring gestanden hat. Stellen Sie sich das vor!"Extra

Imre Kertesz war 2004 der erste Literatur-Nobelpreisträger, der das Eifel-Literatur-Festival besuchte. Damals fand seine Lesung im Priesterseminar in Trier statt, das Festival war wegen der Landesgartenschau bis nach Trier ausgeweitet worden. Nach ihm folgten beim Eifel-Literatur-Festival weitere Nobelpreisträger wie Herta Müller und Günter Grass. red

Meistgelesen
Neueste Artikel
Vom erwischt werden
Vom erwischt werden
Vinyl der Woche: Love Is A Wonderful Thing – Michael BoltonVom erwischt werden
Zum Thema
Aus dem Ressort