Keine Zeit für Riesenzirkus

TRIER. Im 21. Jahrhundert, nach der Frauenbewegung und dem Siegeszug der Pille, entscheiden Frauen meist, wann sie ein Kind bekommen möchten. Die Mutterrolle hat sich innerhalb der letzten drei Generationen gewandelt. Kinder spielen heute mehr denn je die Hauptrolle im Leben einer Mutter. Das war nicht immer so.

Der Platz in der Pekip-Gruppe, einer modernen Form der Krabbelgruppe, wird schon während der Schwangerschaft gesichert, im Schwangerschaftsyoga oder in Geburtsvorbereitungskursen bereiten sich Mütter auf den Tag der Geburt vor. Im Prenatal-Tagebuch wird jede Regung des Kindes und Veränderung des Körpers minutiös festgehalten. Dass Kinder heute nicht mehr nebenher geboren und groß werden und Mütter alles besonders gut machen wollen, hängt laut Herrad Schenk, Sozialpsychologin und Autorin des Buches "Wie viel Mutter braucht der Mensch", damit zusammen, dass sich die meisten Frauen heute bewusst für ein Kind entscheiden. Die Folge einer wohl überlegten Entscheidung: Frauen wollen alles besonders gut machen, das Kind wird Mittelpunkt im Leben der Eltern. "Früher war die Mutterschaft für die meisten Frauen selbstverständlich und fest in der Normalbiographie verankert", schreibt Schenk in ihrem Buch. "Die Frauen früherer Generationen hatten zu wenig Zeit und Muße, Nabelschau zu betreiben, weder in der Zeit der Schwangerschaft noch nach der Geburt des Kindes", meint Schenk. Buchstäblich im letzten Augenblick unterbrachen viele Frauen ihre Tätigkeit, um zu entbinden, und sie nahmen ihre Arbeit so bald wie möglich wieder auf. Eheschließung bedeutete gleichzeitig auch Kinder kriegen. Die Kinderlosigkeit eines verheirateten Paares war nie gewollt und sogar meistens eine soziale Katastrophe. Sorgen um ihre Identität, wie das Kind das Leben verändern wird, kannten Frauen vergangener Jahrhunderte nicht. "Kinderwunsch und all das, was wir heute damit verbinden, ist historisch sehr neuen Datums", weiß Herrad Schenk. Nicht etwa die Berufstätigkeit war es damals laut Schenk, die die Frauen daran hinderte, viel Zeit mit dem Kind zu verbringen. Den Haushaltspflichten oder den aufreibenden Arbeiten auf dem Feld wurde eine ebenso große Bedeutung beigemessen. Und die meist große Kinderschar erlaubte es nicht, einen "Riesenzirkus" um das einzelne Kind zu machen. Und heute? "Genau in dem Maße, wie die außerhäusliche Frauenerwerbstätigkeit zugenommen hat, haben sich die Erwartungen an die Mutterrolle erhöht", sagt Schenk. Nach Ansicht der Sozialpsychologin ein Resultat des Siegeszuges der Psychologie und vor allem der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert. Sie schreibt der frühen Mutter-Kind-Beziehung einen entscheidenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu. Die Betonung der "neuen Mütterlichkeit", die in den 80er-Jahren aufflammte, treibt Frauen in ein folgenschweres Entweder-Oder, statt ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen. Auch der Konkurrenzkampf unter den Müttern, vor allem zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Müttern, hält die Autorin für sehr problematisch. Dies schüre die erdrückende Last der Verantwortung und quälende Schuldgefühle, denen "Neuzeitmütter" heute erstmals ausgeliefert seien. "Früher standen die Frauen unter dem Druck, Kinder kriegen zu müssen. Und heute stehen sie unter dem Druck, eine Supermutter zu sein", sagt Schenk. Auch die negativen Folgen für ein Kind, wenn es weiß, "alles dreht sich im Leben meiner Mutter nur um mich", sind laut Schenk enorm groß.Kein Vehikel zur Selbstverwirklichung

Die Sozialpsychologin hat beobachtet, dass sich nach der Hochkonjunktur der "neuen Mütterlichkeit" zaghaft eine Gegen-Entwicklung anbahnt, eine nüchterne und pragmatischere Einstellung zur Mutterschaft. Nach Meinung von Schenk sind Mutterschaft und Selbstverwirklichung keine Gegensätze, aber die Mutterschaft sollte zum Wohle für Eltern und Kinder niemals zum zentralen Vehikel der Selbstverwirklichung werden. "Vielleicht sollten Frauen überhaupt nur Mütter werden, wenn sie zugleich auch anders bleiben, sein und werden können", formuliert Herrad Schenk. Voraussetzung ist, dass auch gesellschaftliche Bedingungen (ausreichend Teilzeitplätze, flexiblere Arbeitszeiten, qualitativ gute Erziehungseinrichtungen) sich ändern. Herrad Schenk, "Wieviel Mutter braucht der Mensch?", Rowohlt-Verlag, 7,90 Euro.

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