Musizieren, diskutieren, Blumen gießen

Trier · "Das dreigliedrige Schulsystem hat ausgedient", findet Josef Linden, Leiter der Integrierten Gesamtschule (IGS) Trier. Dort lernen alle Kinder gemeinsam, unabhängig davon, welche Empfehlung sie in der Grundschule bekommen haben. Wie das praktisch funktioniert, zeigt ein Tag in der 5c.

Trier. "Drei, zwei, eins - los!" Die Kinder aus der Klasse 5c springen auf, schieben Tische hin und her, stapeln Schultaschen auf die Fensterbank, tragen Stühle durch den Raum. Genau zwei Minuten und neun Sekunden später ist es still. 27 Kinder und zwei Lehrer sitzen in einem Stuhlkreis zusammen. Alle haben den Zeigefinger der einen Hand vor den Lippen, die andere Hand in der Luft: das Ruhezeichen. Klassenlehrer Marco Jakobs trägt "2.09 Minuten" in eine Tabelle auf einer der zwei Tafeln im Klassenraum ein - gleich neben die Aufgaben für die Lernzeit. "Das war eine gute Zeit", sagt er.
Die zweite Klassenlehrerin Melanie Lawrenz nickt. Gleichzeitig behält sie Daniel (Namen aller Kinder von der Redaktion geändert) und Jonas im Blick. Beide haben Probleme, sich zu konzentrieren.
Daniel hat eine Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Er ist unruhig und dauernd in Bewegung, dabei lenkt er nicht nur sich selbst, sondern oft auch seine Nachbarn ab. Bei Jonas wurde vor zwei Jahren das Asperger-Syndrom diagnostiziert, eine Form von Autismus. Er hat sogenannte Inselbegabungen, kennt sich sehr gut in Mathe, Biologie und anderen Naturwissenschaften aus. Im sozialen Bereich hat es Jonas hingegen schwer: Er muss vieles mühsam lernen, was andere Kinder intuitiv können. Hinter ihm sitzt eine Schulbegleiterin, die den ganzen Tag bei ihm bleibt und ihn unterstützt. Zwischen den beiden Jungen sitzt Anna, die von der Grundschule eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen hat. Sie hatte schon immer sehr gute Noten und nie große Probleme mit dem Lernen. Es ist Donnerstagmorgen, ein ganz normaler Schultag beginnt in der Integrierten Gesamtschule (IGS) Trier. Im Stundenplan der Klasse 5c steht: Klassenrat.
Klassenrat? Zwei Klassenlehrer? Lernzeit? An der IGS ist vieles anders, vieles neu, vieles ungewöhnlich. Die Schule ist ein Versuchslabor dafür, was jenseits des dreigliedrigen Schulsystems möglich ist: Es kann jeder Schulabschluss erworben werden, von der Berufsreife bis zum Abitur. In der gleichen Klasse lernen Förderkinder und Kinder mit Gymnasialempfehlung gemeinsam, bearbeiten aber je nach ihren persönlichen Fähigkeiten Aufgaben mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Neben den gängigen Schulfächern wie Mathematik, Deutsch und Englisch lernen sie Musikinstrumente, arbeiten handwerklich und absolvieren im Laufe ihrer Schulzeit mehrere Sozialpraktika. Hausaufgaben gibt es nur selten. Jede Klasse hat zwei Klassenlehrer, auch einige Schulfächer werden im Zweier-Team unterrichtet. Eine Pausenklingel gibt es nicht.
Demokratieverständnis stärken


Im Klassenrat der 5c geschieht das, was Schulleiter Josef Linden die "Stärkung des demokratischen Verständnisses der Kinder" nennt: Zwei Mädchen beschweren sich, dass der Bücherdienst der Klasse nicht richtig arbeitet. Lehrerin Melanie Lawrenz bespricht mit den Kindern, wer sich um das Blumengießen kümmert. Jonas erklärt, was der Unterschied zwischen Palmen und anderen Grünpflanzen ist.
In den nächsten beiden Stunden spielt Anna Querflöte, Jonas Theater und Daniel Fußball. Fünf verschiedene Schwerpunkte gibt es, zwischen denen die Kinder zu Beginn der fünften Klasse wählen können. In der Bläserklasse von Marco Jakobs kämpft ein Mädchen mit dem Saxofon, das partout nicht so will, wie es soll. Ein Junge verschwindet fast hinter seinem Euphonium, einem großen Blechblasinstrument. Obwohl 25 Zehn- und Elfjährige ebenso viele Instrumente in den Händen halten, ist es ruhig, wenn Marco Jakobs redet.
Während die Kinder in der Bläserklasse ein neues Stück einüben, sitzt Schulleiter Josef Linden in seinem Büro und erklärt das Konzept der IGS. "Wir sind hier ein Mikrokosmos der Gesellschaft", sagt er, "alle Schüler haben unterschiedliche Fähigkeiten".
Das zeigt sich in der letzten Stunde vor der Mittagspause: Mathe, Thema Bruchrechnung. In Tischgruppen sollen die Fünftklässler erst Papierkreise, dann daraus Tortenstücke ausschneiden. Es gibt Aufgaben in drei Schwierigkeitsgraden. Die Kinder suchen selbst aus, welche sie sich zutrauen. "Das können die schon ganz gut einschätzen", sagt Klassenlehrerin Melanie Lawrenz. Anna zieht mit dem Zirkel einen Kreis auf das Papier. Sie ist genervt von den Jungen, die ihr gegenübersitzen. "Könnt ihr auch mal was machen?", fragt sie gereizt. Daniel und sein Nachbar haben keine Lust auf Papierkreise und streiten sich lieber um einen Stift. An der Tischgruppe von Jonas ist die Aufgabe schnell gelöst. Damit sich der hochbegabte Junge nicht langweilt, spricht seine Schulbegleiterin mit ihm und seinem Nachbarn.
Trotz Beeinträchtigung integriert


Jonas ist in der Klasse trotz seiner Probleme voll integriert - gerade, weil er nicht der einzige mit einer Beeinträchtigung ist. Auch mit ADHS kennen sich die Kinder mittlerweile aus, für einen Jungen, der regelmäßig Tabletten nehmen muss, hängt an der Wand ein "Mediplan", damit alle ihn daran erinnern können, falls er die Tablette vergisst. "Die Kinder sind sozial schon total fit, obwohl sie erst so kurz zusammen lernen", sagt Klassenlehrerin Melanie Lawrenz zufrieden.
Nach der Mittagspause stehen noch vier Stunden auf dem Plan. Bis 16 Uhr bleiben die Fünftklässler an diesem Tag in der Schule, Hausaufgaben haben sie heute nicht. Das, was sie heute während des Unterrichts nicht schaffen, erledigen sie in der einstündigen Lernzeit. Klassenlehrer Marco Jakobs fragt Vokabeln ab, zwei Mädchen gestalten ein Plakat, Jonas liest. Anna ist müde, reibt sich die Augen und versucht, sich auf die Englischvokabeln zu konzentrieren. Daniel hält es nicht mehr auf dem Stuhl. Er gießt die neu angeschafften Pflanzen ein zweites Mal, geht dann zu einem Mitschüler, klaut ihm den Stift, setzt sich wieder hin, steht wieder auf. Viele Kinder sind unruhig, mehrmals muss Lehrer Jakobs die Klasse ermahnen.
Um 16 Uhr beendet Marco Jakobs die Stunde. Jonas trödelt, sein Sitznachbar hilft ihm, seine Sachen einzupacken. Daniel steht direkt vor der Klassentür und wartet auf das Zeichen zum Aufbruch. Anna gähnt.
Ein normaler Schultag der 5c geht zu Ende. Hinter den Zehn- und Elfjährigen liegen acht Stunden Unterricht - anderer Unterricht.

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