Bundesparteitag Die FDP greift nach den Sternen

Berlin · Um ein Haar hätte die FDP in ihrem Wahlprogramm die Freigabe aller Drogen gefordert. Nach der Intervention des Präsidiums korrigierte sie bei ihrem digitalen Parteitag die Abstimmung. Nun nehmen die Delegierten ohne diese waghalsige Festlegung Kurs auf die Regierung.

Bundesparteitag mit Fernsehstudio-Atmosphäre: FDP-Generalsekretär bei seiner Rede beim digitalen Programmparteitag am Samstag.

Bundesparteitag mit Fernsehstudio-Atmosphäre: FDP-Generalsekretär bei seiner Rede beim digitalen Programmparteitag am Samstag.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Vom „Mondfahrtprojekt“ spricht schon FDP-Chef Christian Lindner bei seiner Parteitagsrede am Freitag. Bei den Beratungen zum Wahlprogramm fügen die Delegierten am Samstag mit großer Mehrheit ein eigenes Unterkapitel mit der Forderung nach einem „Weltraumgesetz“ hinzu. Tatsächlich wird bei diesem Bundesparteitag die Lust der Liberalen immer wieder deutlich, nach den Sternen zu greifen. Das offensichtliche Kalkül: Wenn die Werte für die Grünen stark fallen, die für die Union mäßig steigen und die FDP ihre aktuellen zwölf Prozent sogar noch ausbauen kann, könnte es bei der Regierungsbildung im Herbst auf die Freien Demokraten ankommen.

Volker Wissing, der Mitarchitekt der rot-gelb-grünen Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz, markierte als FDP-Generalsekretär bei verschiedenen Gelegenheiten seine Sympathie auf ein Zusammengehen mit SPD und Grünen auch im Bund. So mit der Hoffnungen auf eine Ablösung der Union im Kanzleramt. Manche Punkte des ambitionierten Wahlprogrammes interpretieren Anhänger und Delegierte auch eher als sozialliberale Perspektiven als Anknüpfen an schwarz-gelbe Zeiten. Doch als Wissing zum Auftakt der Programmberatungen sich selbst die Frage stellt, mit wem die FDP das alles umsetzen wolle, gibt er indirekt der Ampel eine rote Karte.

„Die Grünen wollen neue Schulden machen und am liebsten mit der SPD die Steuern erhöhen“, lautet seine Analyse. Und seine Ergänzung: „Wir wollen beides nicht.“ Der Union hält er vor, sich schon beim Erarbeiten des Wahlprogramms die Frage zu stellen, wie sie sich den Grünen anpassen könne. Dem hält er den eigenen Kurs der FDP entgegen. Ein zentrales Versprechen hat Lindner schon am Vortag abgegeben: Mit einer FDP in einer Regierung werde es keine höheren Steuern geben. Er sagt es nicht als letztlich verhandelbaren Punkt, sondern verbindet es mit der Erinnerung an das Aus für Jamaika im Herbst 2017. Konkret heißt das: Lieber wieder nicht mitregieren, als eine Steuererhöhung mittragen. Und doch lässt auch Lindner zugleich die Präferenzen für Jamaika durchblicken, als er betont, es komme darauf an, die Union mit den Grünen nicht allein zu lassen.

Wissing legt für seine 12-Prozent-Partei bewusst eine Messlatte an die 25-Prozent-Partei und will die Grünen sogar auf dem Feld der Klimapolitik stellen. Mit dem FDP-Konzept einer gesetzlich festgelegten CO2-Obergrenze würden die Klimaschutzziele „garantiert und nicht nur vielleicht“ erreicht. Die Fixierung der Grünen auf die Elektromobilität nennt Wissing „schädlich“ und zu wenig ambitioniert. Das Verbot von Verbrennungsmotoren mache keinen Sinn, wenn diese mit klimaneutralen synthetischen Kraftstoffen betrieben werden könnten.

Viele würdigen das „starke“ Programm, das Wissing als Entwurf zum Parteitag vorgelegt hat. Es geht um mehr Freiheit, weniger Untertanengeist, um Aufstiegsversprechen und Chancen – und immer wieder auch um technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt. Aber die Lust aufs Regieren schlägt sich auch in rund 540 Änderungsanträgen nieder. So viele wie nie. Und das kann nicht in den gewohnten Bahnen eines Präsenzparteitages abgewickelt werden, sondern muss digital gemeistert werden – mit vielen eingebauten Tücken. Da sind die Wortmeldungen von Delegierten zum richtigen Zeitpunkt einzutippen, ist der Zutritt zum Video-Raum zu schaffen, und wenn dann die Schalte ins Wohnzimmer steht, bricht sie immer wieder zusammen.

Da kann man leicht die Übersicht verlieren. Ausgerechnet beim heiklen Punkt der Drogenfreigabe passiert das am Samstagabend. Zügig ist der Änderungsantrag beschlossen, wonach sich die FDP auch hinter das „portugiesische Modell“ stellt, bei dem es angeblich vor allem um Prävention statt Strafe gehe. Klingt gut. Doch plötzlich dämmert dem Präsidium, was nun im Wahlprogramm steht und verlangt Neubefassung. „Das bedeutet die vollständige Freigabe aller Drogen“, meint Parteivize Wolfgang Kubicki entsetzt. Damit bekäme man ein „Riesenproblem bei der Zukunftsfähigkeit.“

Delegierte verlangen, sich nicht erneut damit zu befassen. Der Antrag sei bereits beschlossen, es gäbe keine neuen Argumente. Da ergreift der Parteichef selbst das Wort und mahnt zu mehr Entgegenkommen. Einen Beschluss von derartiger Tragweite solle man nicht stehen lassen, wenn etwa die Gesundheitsexpertin Christina Aschenberg-Dugnus aus technischen Gründen ihre Bedenken nicht artikulieren konnte, mahnt Lindner. Es häufen sich Geschäftsordnungsanträge. Schließlich wird die Debatte wieder eröffnet.

Zehn Tagesdosen an Heroin, Kokain, Chrystal Meth straffrei stellen? Will die FDP damit ernsthaft in den Wahlkampf? Der Pulsschlag im virtuellen Raum wird schneller. Es gehe nicht wirklich um Freigabe, sondern darum, Menschen nicht zu kriminalisieren, die es als Süchtige eh schon schwer hätten. Man brauche in Deutschland wirklich ein vollkommenes Umsteuern, meinen die einen. Erst mal anschauen, was in Portugal funktioniert und was nicht, lautet die Empfehlung der anderen.

Wie frei sind die Freien Demokraten bei der Freigabe? Am Mittag hat der Generalsekretär die Verdoppelung der Sympathiewerte seit Weihnachten mit dem Wort „frei“ im Parteinahmen erklärt – und dass sich die Menschen in Zeiten des Lockdowns genau danach sehnten. Nun schwant manchen Rednern, dass es im Wahlkampf eng werden könnte, wenn sich die FDP für die Straffreiheit auch von zehn Konsumeinheiten an Kokain, Heroin und Crystal Meth stark macht. Abstimmung. 260 Delegierte folgen Kubickis Vorschlag auf Streichung, 182 wollen beim portugiesischen Modell bleiben. Mit 58 Prozent ist der Passus wieder herausgekickt. Kubicki lehnt sich lächelnd zurück, auch Lindner wirkt sehr erleichtert.

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