Interview Gerd Hankel „Deutschland ist noch längst nicht Kriegspartei“

Interview | Berlin · Der Hamburger Völkerrechtler erklärt im Gespräch, was die Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine rechtlich bedeutet und ob sich Putin möglicherweise irgendwann vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten muss.

 Die Bundesregierung will Leopard-Panzer an die Ukraine liefern. Wird Deutschland damit zur Kriegspartei?

Die Bundesregierung will Leopard-Panzer an die Ukraine liefern. Wird Deutschland damit zur Kriegspartei?

Foto: dpa/Stefan Sauer

Deutschland will Leopard-Panzer an die Ukraine liefern, die Vereinigten Staaten unterstützen mit Abrams, die Briten setzen auf Challenger-Panzer. Die russische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Der Kreml kündigte die Zerstörung westlicher Kampfpanzer an und warf den Verbündeten der Ukraine vor, sich damit direkt am Konflikt zu beteiligen. Gerd Hankel, Völkerrechtler am Hamburger Institut für Sozialforschung, erklärt im Interview, warum die Kampfpanzer-Lieferung nicht die Schwelle zur Kriegspartei überschreitet.

Herr Hankel, selten wurde in den vergangenen Jahrzehnten so intensiv über das Völkerrecht diskutiert wie in diesen Wochen. Ab wann ist ein Land Kriegspartei?

Gerd Hankel sagt: „Wenn ein Land einen Bahnhof beschießt oder Wohngebiete ins Visier nimmt, wird das Völkerrecht gebrochen.“

Gerd Hankel sagt: „Wenn ein Land einen Bahnhof beschießt oder Wohngebiete ins Visier nimmt, wird das Völkerrecht gebrochen.“

Foto: Gerd Hankel

Hankel Ohne Zweifel kennt das Recht Grauzonen. Es gibt allerdings vier Kriterien, die ein Land erfüllen muss, um im Sinne des Völkerrechts als Kriegspartei zu gelten. Zunächst muss ein Staat über Kombattanten, also Kämpfer verfügen, die einer Armee angehören, in der das Prinzip der Kommandogewalt - also von Befehl und seiner Befolgungspflicht - herrscht. Diese Kämpfer müssen ein gemeinsames Zeichen tragen, sodass sie aus der Ferne erkannt werden können, und sie müssen ihre Waffen sichtbar bei sich führen. Zudem müssen in einer solchen Armee die Gesetze und Bräuche des Krieges beachten werden.

Das klingt befremdlich: Was sind die Gesetze und Bräuche eines Krieges?

Hankel Für Formen von Massengewalt gibt es Regeln, die man beachten muss. Das heißt, dass die Destruktion gegen Personen und Sachen nur bis zu einem gewissen Grad erfolgen darf. Es ist etwa eine Grundregel, dass man die unbeteiligte Zivilbevölkerung schützen muss. Als Soldat darf ich niemanden angreifen, der erkennbar Zivilist und friedlich ist. In Butcha oder Irpin hat Russland dagegen massiv verstoßen. Dann sprechen wir eher von Terror als von Krieg. Unterschiedslose Angriffe sind ebenfalls verboten. Wenn ein Land also einen Bahnhof beschießt oder Wohngebiete ins Visier nimmt, wird das Völkerrecht gebrochen.

Mit der Entscheidung über die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine macht sich der Westen aus Sicht des Kreml in zunehmendem Maße zur Kriegspartei. Wie blicken Sie darauf?

Hankel Deutschland ist noch längst nicht Kriegspartei. Die Lieferung von Waffen bleibt klar unterhalb dieser Schwelle. Artikel 51 der UN-Charta besagt, dass es ein Recht zur Selbstverteidigung gibt. Und es gibt auch das Recht der Nothilfe. Wenn ein Land angegriffen wird, darf also ein anderes Land zur Hilfe eilen. Und das geschieht derzeit mit Blick auf die Ukraine: Wir helfen und sind damit im Status der Nichtkriegsführung. So sind wir zwar nicht neutral, aber die Bundesrepublik ist das in diesem Konflikt auch nie gewesen, anders als die Schweiz. Wir könnten sogar soweit gehen, Soldaten in die Ukraine zu entsenden. Das wäre rechtlich zulässig, aber eine unheimliche Eskalation des Konfliktes.

Ab welchem Zeitpunkt wäre Deutschland denn Kriegspartei?

Hankel Kriegspartei wären wir völkerrechtlich, wenn Bundeswehr-Soldaten in der Ukraine kämpfen oder Flugzeuge von Bundeswehr-Piloten geflogen werden. Wir müssten direkt an der militärischen Auseinandersetzung beteiligt sein. Und davon sind wir noch weit entfernt.

Halten Sie es für denkbar, dass sich Bundeswehr-Soldaten vor Ort an dem Konflikt beteiligen?

Hankel Nun, wir haben mit Blick auf den Ukraine-Krieg gesehen, dass Grenzen immer wieder verschoben werden. Vor wenigen Monaten war die Lieferung von Leopard-Panzern noch ein Tabu, heute wird die Entscheidung mitunter bejubelt. Nun werden bereits Forderungen nach der Lieferung von Kampfflugzeugen laut. Ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, dass wir in einigen Monaten Kampfjets liefern werden. Allerdings dürften diese dann von ukrainischen Piloten geflogen werden. Ich glaube nicht, dass wir in der Ukraine zur Kriegspartei werden. Aber wir haben als Westen die Devise ausgegeben, dass die Ukraine gewinnen muss. Dahinter kann man nicht zurück. Daher werden wir noch einige Opfer bringen müssen.

Könnte Russland nach dem Völkerrecht bestraft werden?

Hankel Ich bin froh, dass diese Frage überhaupt gestellt wird. Vor 150 Jahren war Krieg nämlich ein fester Bestandteil der Politik, Prozesse wegen Kriegsverbrechen wären undenkbar gewesen. Das hat sich geändert. Was mich optimistisch stimmt, ist, dass diese Verbrechen nicht verjähren. Und Russland begeht systematisch und ausgedehnt Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung. Wichtig ist zudem, dass die Ukraine in zwei Erklärungen deutlich gemacht hat, dass alles, was auf ukrainischem Hoheitsgebiet geschieht, in den Zuständigkeitsbereich des Internationalen Strafgerichtshofs fällt.

Muss sich Russlands Präsident Wladimir Putin also irgendwann in Den Haag verantworten?

Hankel Das scheint nun noch unwahrscheinlich zu sein. Aber Slobodan Milosevic, Schlüsselfigur des Jugoslawienkrieges, hätte vor einigen Jahren auch nie daran gedacht, dass er sich in Den Haag verantworten müsste. Irgendwann aber wurde er für die nachfolgenden Machthaber in Serbien zum Hindernis. Um politisch Ruhe zu bekommen, wurde Milosevic Anfang des Jahrtausends an den Gerichtshof in Den Haag übergeben. Wer sagt, dass das politische Umfeld von Putin nicht irgendwann ebenfalls einen solchen Schritt wagt? Wahrscheinlich wäre im Gegenzug die Zusicherung von Straffreiheit für Putins Vertraute notwendig. Ich hoffe inständig, dass das bald passiert.

Ist schon der russische Angriff auf die Ukraine ein justiziables Verbrechen?

Hankel Nein, das Verbrechen gegen den Frieden ist leider im konkreten Fall nicht strafbar. In Den Haag kann Putin für den Angriff also nicht bestraft werden. Aber zur Diskussion steht ein Sondertribunal, um Putin und andere aus der russischen Führungsebene wegen des Verbrechens gegen den Frieden anzuklagen. Ich persönlich halte es jedoch nicht für eine gute Idee, ein Sondertribunal parallel zum Internationalen Strafgerichtshof einzurichten. Es stünde rechtlich und politisch auf einer zu schmalen Basis und eigentlich ist es überflüssig. Eine Bestrafung von Putin und anderen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den Internationalen Strafgerichtshof ist ja ohne weiteres möglich.

Welche anderen Wege sehen Sie für juristische Strafen?

Hankel Deutschland kann, wenn es um Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht, nach dem Weltrechtsprinzip russische Täter, die sich in Deutschland aufhalten, vor deutschen Gerichten zur Verantwortung ziehen. Der Weg dahin ist aber weit. Die erste Adresse ist aus meiner Sicht der Internationale Strafgerichtshof.

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