Die Kanzlerin ganz offen für Neues

Berlin · Sie wirft mit Fachbegriffen um sich - und sie weiß, wovon sie redet: Bundeskanzlerin Angela Merkel liegt viel daran, die Bundesbürger für Innovationen zu gewinnen. Das macht sie am von ihr einberufenen Runden Tisch im Berliner Kanzleramt klar.

Berlin. "Ham Se mal so\'ne 35-Dollar-Maschine da?" Angela Merkel guckt sich die Erfindung von Suneet Singh Tuli gleich an. Der Inder hat ein Tablet für die Massen entwickelt, denn er findet, dass der Zugang zum Internet ein grundlegendes Menschenrecht ist. "Vielleicht wäre das was für unsere Schulen", sagt die Kanzlerin. "Ehe die gar nichts haben, geht es ja vielleicht mit solchen Basics".
Deutschlands Regierungschefin hat internationale Experten zum Runden Tisch über Innovationen ins Kanzleramt geladen, dem zweiten innerhalb von zwei Jahren. Eigentlich geht es dabei nicht um Technologien, wie sie Tuli mitgebracht hat, sondern um Haltungen: Was können Innovationen bringen, und wie kann man die Leute dafür begeistern, vor allem die Deutschen?
Aus Sicht von Angela Merkel ist die Risikobereitschaft im Land nämlich viel zu gering. Wenn in einem Zehnerpaket durchschnittlich nur ein Glückslos sei, kaufe man es nicht, aus Angst, dasjenige zu erwischen, in dem sich keines befinde, sagt sie. Dabei könnten genauso gut zwei Treffer drin sei. Die Leute müssten mehr lernen, die Chancen zu sehen, schon von der Schule an, sagt sie. Ihr fehlt die Begeisterungsfähigkeit. Anderswo ist es anders. Eine junge Aktivistin aus Rio erzählt, wie sie es geschafft habe, 200 000 Bewohner der brasilianischen Gigacity im Internet für Kommunalpolitik zu interessieren, eine Frau aus Nairobi berichtet von ihrer Online-Plattform, die inzwischen überall in Afrika Menschen vernetzt, um Probleme zu lösen. Das Internet, so viel wird aus den kurzen Vorträgen klar, verändert nicht nur die Industrie. Sondern auch das soziale Zusammenleben der Menschen.
Angela Merkel schaltet sich immer wieder mit Fragen und Anmerkungen in die Vorträge ein, was einem britischen Experten hinterher den spontanen Satz "she is very impressing" entlockt, sie ist sehr beeindruckend.
Es wird deutlich, dass die Kanzlerin sich nicht das erste Mal mit der Materie beschäftigt, und das nicht nur dadurch, dass sie virtuos mit Begriffen wie "Sustainability" (Nachhaltigkeit), oder "evidenzbasierte Wirksamkeitsanalyse" um sich wirft.
Mit Letzterem ist gemeint, dass man den Leuten die ganz praktischen Vorteile von Neuerungen klar machen muss. Merkels Zeigefinger geht an dieser Stelle zum Kopf: "Viele denken jedoch gleich, wir wollen ihnen was verkaufen." Die Kanzlerin hat Innovationsskepsis im Land ausgemacht, gegen die sie mit zunehmender Intensität ankämpft. "Die anderen Nationen schlafen nicht", ist einer ihrer Lieblingssätze. Ein weiterer: "Wir dürfen nicht im eigenen Saft schmoren". Bei den "disruptiven Innovationen" - das sind technische Neuerungen, die ganze Märkte umkrempeln, wie etwa das Smartphone - sei der Mangel an Risikobereitschaft in Deutschland am deutlichsten spürbar, findet sie. Als ein Industrievertreter in der Runde daraufhin vorschlägt, Produkten bei Zulassungsverfahren einen Bonus zu geben, wenn sie innovativ sind, findet Merkel das sofort eine gute Idee. "Sie meinen einen Pluspunkt?"
Freilich, bei der grünen Gentechnik zum Beispiel käme das im Volk wohl kaum gut an.
Noch ein zweites Hindernis macht die Kanzlerin aus: Gewisse Verkrustungen. Es gehe darum, dass das Internet auch die Bildung und das Sozialwesen verändert, weil die Leute sich durch Vernetzung selbst helfen können. Dieser Trend stoße in Deutschland auf die "gewaltigen Besitzstände" von großen Organisationen wie Caritas oder Diakonie, referiert die Kanzlerin. Kaum hat sie das gesagt, wird ihr bewusst, dass die ganze Diskussion per Livestream im Internet übertragen wird. "Das war jetzt keine Kampfansage an die Sozialverbände", fügt die Kanzlerin schnell an: "Wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie zur Innovation bereit sind". Auch innovative Kanzlerinnen brauchen eben ihre Wähler.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort