Gefährlicher Alltag

Führung durch die Elendsviertel Indiens

Shekhar hat sich fein gemacht. Das Hemd ist ordentlich gebügelt und in die Hose gesteckt, die Haare hat er mit Gel hinter die Ohren gekämmt. Er steht vor dem Hauptbahnhof in der indischen Hauptstadt Neu Delhi, vor ihm warten Emily, Gloria und Kate darauf, dass er mit seiner Führung beginnt. Es ist heiß in der Sonne, und die drei jungen Engländerinnen versuchen vergeblich, sich mit der Hand ein wenig Luft zuzufächern. Shekhar wischt sich den Schweiß von der Stirn, drückt die Schultern durch und beginnt mit einer kleinen Rede. Vom Träumen spricht er, von der Hoffnung, und davon, wie wichtig diese Dinge im Leben sind. Dann bringt er seine Gäste an einen Ort, an dem gerade für Träume nicht viel Platz ist. Er führt die Urlauberinnen aus dem reichen Westen zwischen die Waggons im Hauptbahnhof von Neu Delhi, dorthin, wo die Straßenkinder wohnen. Shekhar ist einer von drei Touristenführern, die diese ungewöhnliche Tour im Hauptbahnhof anbieten: Vier Mal pro Woche nimmt er Touristen und Backpacker mit auf einen Streifzug durch das Leben der Straßenkinder. Shekhar weiß, wovon er spricht: vor sechs Jahren riss der damals Zwölfjährige von zu Hause aus und floh in die Millionenmetropole - ganz alleine. Heute zeigt er Urlaubern die weithin unbekannte Welt, in der er viele Jahre überlebte. Organisiert werden die Führungen vom Salaam Balak Trust (SBT), einer Hilfsorganisation für Straßenkinder, die 1988 von der indischen Regisseurin Mira Nair gegründet wurde. Vor drei Monaten kam ein neues Projekt hinzu: Shekhars Bahnhofs-Führungen. Was anfangs nur die flüchtige Idee eines Freundes war, nahm schnell konkrete Formen an. Zwei Stunden dauert die Tour, einmal durch den Bahnhof und anschließend zum nahe gelegenen Basar - als "Slum-Tour" aber will Shekhar die Führungen nicht verstanden wissen. Er will Touristen nicht Elendsviertel vorführen, sondern sie aufmerksam machen auf das Schicksal der Kinder. Mehr als 400 Züge kommen jeden Tag in Neu Delhis drei Fernbahnhöfen an, täglich bringen sie rund 50 neue Kinder in die Hauptstadt. Die Gründe, aus denen die Kinder von zu Hause ausreißen, sind oft die gleichen: Streit mit den Eltern, Probleme in der Schule - und oft genug auch sexueller Missbrauch. Manche von ihnen sind bei ihrer Ankunft nicht einmal sechs Jahre alt. "Die meisten von ihnen waren noch nie in einer großen Stadt", sagt Shekhar. "Sie steigen aus dem Zug aus und haben keine Ahnung, was sie tun sollen." In Banden bekommen die Neuankömmlinge beigebracht, wie man auf der Straße überlebt. "Das war eigentlich das Beste, was mir passieren konnte", sagt Shekhar über seine eigenen Erfahrungen. Denn das Leben am Bahnhof ist gefährlich. Ein paar Wochen nach seiner Ankunft klettert Shekhar nachts mit einem Freund auf das Dach eines Waggons, um Karten zu spielen. Der Freund verliert eine Spielkarte, will sie auffangen - und greift dabei direkt in eine herunterhängende Stromleitung. Shekhar muss mit ansehen, wie der Junge stirbt. Die Jungs aus seiner Bande bringen ihm bei, wie man aus den einfahrenden Zügen übrig gebliebenes Essen klaut und wo man am besten übernachten kann. Die Kinder schlafen damals wie heute unter Waggons, auf den Dächern der Getränkebuden oder auf den Dächern der Bahnsteige. Shekhar lernt auch, wie man sich vor den Schlägen der Polizei schützt. Vor allem aber bekommt er beigebracht, wie man Touristen das Geld aus der Tasche zieht. Wie auf Kommando drücken Emily, Kate und Gloria ihre Rucksäcke fester an sich, als Skekhar das erzählt. Irgendwann fällt den drei Engländerinnen auf, dass Shekhar nur von Jungen spricht. Was ist mit den Mädchen? "Die bleiben hier nicht lange", sagt Shekhar. "Mädchen werden meistens schon am Zug von Zuhältern abgefangen." Was dann mit ihnen geschieht, darüber möchte er nicht sprechen. "Auf der Straße ist man eigentlich dauernd auf der Suche nach etwas Essbarem - oder nach einer Möglichkeit, an Geld ranzukommen", erklärt er auf dem nächsten Bahnsteig. Dafür sammeln die Kinder alles, was sich auf dem nahen Basar verkaufen lässt: Altpapier und leere Flaschen. Oder auch weggeworfene Zeitungen, die man noch lesen kann. An einem guten Tag bekommen sie ungefähr einen Euro zusammen. Das Geld sparen sie für die einzige Zeit in der Woche, in der auch sie nicht arbeiten gehen: am Samstagnachmittag putzen und kämmen sich die Kinder so gut es geht an einem der Wasserhähne, mit denen sonst die Züge gewaschen werden. Dann gehen sie gemeinsam ins Kino, um sich den neusten Bollywood-Film anzuschauen. "In den Filmen ist alles so bunt und fröhlich." Shekhar seufzt. "Die Menschen singen und tanzen, und alles ist gut." Es ist diese heile Welt aus Kitsch und Romantik, die die Kinder für ein paar Stunden ihren Alltag vergessen lässt. Die andere Möglichkeit, das Leben am Bahnhof wenigstens für eine kurze Zeit hinter sich zu lassen, ist wesentlich gefährlicher: Nicht wenige der Straßenkinder sind drogenabhängig. Das billigste Mittel für den schnellen Rausch: Giftige Klebstoffdämpfe. "Unglaublich", sagt Emily. Sie will von Shekhar wissen, was seine Träume für die Zukunft sind? Shekhar antwortet nicht gleich. "Naja", sagt er schließlich fast ein bisschen schüchtern. "Ich will Schauspieler werden." Sollte das aber nicht klappen, könnte er sich auch mit einem bodenständigeren Job anfreunden: "Oder ich mache eine Hähnchenbude auf." Bereut er die Zeit, die er auf der Straße verbracht hat? Oder würde er es noch einmal genauso machen? "Kann ich ein bisschen überlegen?", fragt er. Erst eine halbe Stunde später kommt er noch einmal auf die Frage zurück. "Ich glaube, ich bereue nichts. Ich habe auf der Straße einiges gelernt", sagt Shekhar. "Zum Beispiel, dass es letztendlich von einem selbst abhängt, was man im Leben erreicht oder nicht."

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