Heiliger Bimbam

Unzählige Glocken, schwer von Erz, schwingen und läuten über deutschen Dächern. Aus 32 000 Kirchen, von Kathedralen und Kapellen. Tausende ihrer Türme hat Kurt Kramer, 60, schon bestiegen. Der "Glockenpapst", immer unterwegs zwischen Himmel und Erde. Unter den 60 deutschen Glockeninspektoren ist er der maßgebliche Fachmann für historisches Geläut.

Auf 300 Türme klettert er im Jahr, bundesweit. 72 000 Stufen hinauf zu den klangvollsten und berühmtesten Glocken der Welt. Die Luft schwirrt, der Glockenstuhl vibriert. 22 Tonnen Bronze setzen sich leise knarrend in Bewegung. Die Kolosse wiegen sich im wuchtigen Gebälk. Sie schwingen sich höher und höher, bis ihre Klöppel dröhnend gegen die Mäntel schlagen. Inmitten des mächtigen Geläuts hockt seelenruhig ein großer, grauhaariger Mann mit rotem Filzhut. Beide Hände schützend vor die Ohren haltend, gibt sich Glockeninspektor Kurt Kramer der infernalischen Symphonie hin. Ins Auszittern der letzten Schläge sagt Kramer: "Diese Glocken gehen unter die Haut." Seinem scharfen Blick und feinem Gehör entgeht nichts. Läutet eine Glocke auch nur eine Spur zu unrhythmisch, könnte etwas mit dem Lager nicht stimmen. Eine winzige Verschiebung des Anschlagwinkels, und der Klang verändert sich radikal. Kramer strahlt: "Keinerlei Haarrisse an den Glocken, keine Verschleißspuren an den Holzjochen!" Das gewaltige Gebälk im weltweit größten mittelalterlichen Glockenstuhl des Freiburger Münsters federt seit 700 Jahren alle Kräfte problemlos ab. Und die Klöppelhalter aus Schweinsleder werden noch viele Winter überdauern können. "Die sind gut eingefettet, die halten noch Jahrzehnte." Auch die Glocken selbst sieht Kramer tadellos in Schuss: "Josef", "Maria" und ihre gewichtigen Schwe-stern, jede für sich eine ausgeprägte Persönlichkeit, verschmelzen zu einem harmonischen Ensemble. Heiliger Bimbam auf höchstem Niveau. Seit 32 Jahren steigt Kurt Kramer in die alten Türme. Knapp 400 Höhenkilometer hat er bis heute erklommen. Hoch ins dämmrige Gebälk, wo scheue Schleiereulen und Turmfalken, Schwalben und Fledermäuse den Eindringling mit dem Stimmgabelkoffer dulden. Über mehr als 6000 Glocken in 2500 Kirchen wacht der erzbischöfliche Glockeninspektor der Diözese Freiburg, zugleich "Vorsitzender des Beratungsausschusses für das Deutsche Glockenwesen". Mehr als zwölf Jahre dauert es, bis er alle Türme seines klingenden Claims einmal besichtigt hat. Dem Ruf historischer Glocken folgt Kurt Kramer bis in die hintersten Winkel Deutschlands und ganz Europas. Nach Russland, Polen, nach Tschechien und Ungarn, Italien und Frankreich. Ob in Florenz oder Venedig, in Thorn oder Paris - der glühende Glockenverehrer kennt, katalogisiert und konserviert fast alle bedeutenden Geläute des Kontinents. Viele auf CD, geklaute Klänge inklusive: Im Südturm der Notre Dame von Paris scheppert seit mehr als 300 Jahren ein 13 Tonnen schwerer Bronze-Koloss: Die berühmte "Emmanuel", die Sonnenkönig Ludwig XIV. aus zusammengeschmolzenen deutschen Glocken im Beisein des devoten europäischen Hochadels gießen ließ. "Sie hat etwas Dämonisches", sagt der Fachmann für historisches Geläut, der in der Kartei des französischen Kultusministeriums als "Monsieur Bimbam" geführt wird. Ganze Schulklassen schreiben ihm. "Sie steigen widerwillig hoch und kommen begeistert wieder runter." Ganz hartgesottene Freaks - "etwa 400" - folgen ihrem Idol bis in die Glockenstuben. "Sie wollem vor allem Technisches und Historisches wissen." Über mehr als zwei Millionen Stufen musste Kramer im Laufe seiner Dienstjahre kraxeln. Viele der heiligen Gefäße hat er in luftiger Höhe vor dem Verstummen bewahrt. Unter anderem die Dom-Geläute von Braunschweig, Bamberg, Erfurt, Konstanz, Trier, Speyer und Mainz, die "Freiheitsglocke" in Berlin, die Glocken der Reichenau aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die als erstes Geläut der Erde zum Weltkulturerbe erhoben wurden. In Trier verfeinerte Kramer die berühmten Glocken des Doms, in der hochgotischen Backstein-Kathedrale St. Marien, Lübeck, das größte Läutwerk Schleswig-Holsteins, in Karlsruhe die Stephansglocke, mit mehr als 8,5 Tonnen die größte Glocke Baden-Württembergs. Kramers Tage sind ausgefüllt: Morgens drei Türme, nachmittags drei Türme, abends die Protokolle und nächtens manche Riesling-Runde beim Pfarrer, wo die Dialoge oft bis zum Hahnenschrei Schleifen und Spiralen schlagen. Was dabei besprochen wird, hängt der in sich ruhende Mann nicht gern an die große Glocke, nur soviel: "Wir verändern jedesmal die Welt."

Thomas Olivier

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