Auszeit für Mama Schlottmann

In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte einmal Familie Schlottmann: Mama Schlottmann, Papa Schlottmann, Amelie Schlottmann, Franziska Schlottmann, Thomas Schlottmann, Klein-Heinz Schlottmann und das kleine Baby Claudia Schlottmann.Wie an fast jedem Sonntag saß Familie Schlottmann am Frühstückstisch beisammen: Papa schlürfte seinen Kaffee, Amelie und Franziska diskutierten lautstark, ob die Richtige beim Halbfinale von GNTM ausgeschieden war, und Thomas baute mit seinen Bauklötzen einen Riesenkran.

Klein-Heinz saß neben ihm auf dem Boden und schaute dem großen Bruder ehrfürchtig zu. Er atmete kaum, denn er wusste, wenn die Bauklötze zusammenfielen, weil er vielleicht zu stark geatmet hatte - dann oh je.
Alles war also, wie an jedem Sonntag, in Ordnung. Alles? Mama Schlottmann saß schon länger nicht mehr am Tisch, sondern schob den Stubenwagen, in dem Claudia lag, hin und her, und das in einem recht flotten Tempo. "Hin und her, hin und her", quietschten die Räder, quer durch das Esszimmer und immer gefährlich nahe an Thomas' Kran vorbei. Plötzlich stockte sie: "Thomas, zieh bitte deine Hausschuhe an." Thomas stöhnte. Mama schob den Stubenwagen wieder an und noch näher als eben rollten die Quietschräder an Thomas Kran vorüber:
"Thomas!" Mamas Stimme schnitt wie ein Messer durch die Luft.
"Geht gerade nicht." Nur noch dieser eine Bauklotz musste aufgestapelt werden, so lange würde Mama wohl noch warten können.
"Das gibt es ja wohl nicht. Erwartest du etwa, dass ich dir deine Hausschuhe bringe? Ihr glaubt wohl, ich bin eure Dienstmagd."
Nun, wenn Mama so sprach, dann machte man besser, was sie sagte. Widerwillig stand Thomas auf. Sonst sagte Mama Sätze wie, "Mein Herz ist ganz voll von euch, ihr seid mein Glück", aber heute würde sie diesen Satz wohl nicht sagen. "Nein Amelie, du räumst den Frühstückstisch jetzt nicht ab. Du machst schon genug. Franziska, du bist jetzt dran. Du glaubst ja sowieso, alles richtet sich hier nach dir, alle sind nur dazu da, dir das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Heinz, gehst Du mal endlich ans Telefon?"
Oh je, es war Papas Chef. Papa musste weg, journalistische Vertretung beim Frühschoppenkonzert, das hatte gerade noch gefehlt. Und das am Sonntag! Mama ruckelte wütend den Stubenwagen, ein Wunder, dass Claudia nicht seekrank wurde, aber die lachte und quiekte munter vor sich hin. Und dann stieß Mama gegen Thomas' Turm. Gerade als der seinen letzten Bauklotz gestapelt hatte, gerade, als er Papa bitten wollte, ein Foto von seinem Riesenkran zu machen, da stürzte das ganze schöne Bauwerk ein, und ein Klotz traf Claudia im Stubenwagen am Kopf und dann hörte man nur noch ein Schreien und Weinen.
Mama stöhnte. Es wurde still. "Kinder, so geht das nicht", rief sie, "ich brauche eine Auszeit! Ich habe heute Nacht fast keine Auge zugetan. Wenn ich mir vorstelle, was ich heute alles machen muss - Wäsche waschen, kochen, zwischendurch Claudia und Klein-Heinz. Ich brauche einmal Ruhe. Ich gehe jetzt ins Bett. Ihr müsst heute schauen, wie ihr klarkommt."
Und schon war sie verschwunden. Ab durch die Tür. Keine Mama mehr da. Und wenn Claudia auch einen Augenblick ruhig gewesen war, jetzt begann sie wieder zu weinen. Amelie sprang herbei und schuckelte den Wagen, der sofort erleichtert mit den Reifen quietschte. Sonst sagte keiner was. Klein-Heinz zuckte verdächtig in seinen Mundwinkeln. Und dass Papa sogleich schnell verduftete, machte es auch nicht besser. Und Klein-Heinz beruhigen, ja, das konnte sowieso eigentlich nur Mama.
"Kinder, wir brauchen einen Schlachtplan." Alle atmeten erleichtert auf. Wie gut, dass es Amelie gab, die nun Claudia auf dem Arm hielt. "Wir müssen das heute hinkriegen. Egal wie. Franziska, ich brauche dich, ohne dich schaffe ich das nicht. Du hast immer die besten Ideen."
Na also, doch noch jemand da, der ihre Fähigkeiten würdigte. Franziska war sauer. Ohne Grund hatte Mama sie eben angeschnauzt und dann verschwanden Papa und Mama einfach. Sollte sie nicht Birgit anrufen und auch verduften? Sollten doch alle sehen, wie sie ohne sie zurechtkamen, wenn sie sich anscheinend sowieso nur bedienen ließ. Jetzt nickte sie aber huldvoll und schaute Amelie an: "Na, sturmfrei, das nutzen wir. Zuerst gehe ich mit den Kleinen raus in den Wald. Du räumst dann die Küche auf. Und dann, back doch danach einen Kuchen. Den essen wir dann, wenn wir wieder da sind. Und der Wald kommt mit uns zurück, ihr werdet staunen!"
Gesagt, getan: Es war schön draußen, der Frühling zeigte schon sein Gesicht, überall kleine Osterglocken und Krokusse und sogar die ersten Tulpen! Sie gingen in das Waldstück nebenan, die gefallenen Blätter des vergangenen Herbstes raschelten unter ihren Füßen und Franziska ermunterte Thomas und Klein-Heinz, alles zu sammeln, was sie schön fanden, was sie vielleicht brauchen könnten. Und Thomas und Klein-Heinz fanden und brauchten viel: weiches zartes Moos, kleine blaue und weiße Blumen, eine Wurzel, die geformt war wie die Hand eines Riesen, und dann lag da ein wunderschöner Ast mitten auf dem Weg, Blätter hingen daran und eine Kletterpflanze wand sich dicht um ihn herum. Ja, auch der musste mit.
Zum Glück gab es unter Claudias Kinderwagen ein Netz, in das passte viel hinein. Nur den Ast, den musste Franziska selber schleppen und gleichzeitig den Kinderwagen schieben. Ja, das war keine leichte Arbeit. Aber es hatte ja auch niemand gesagt, dass es leicht werden würde. Und also biss sie die Zähne zusammen und passte auf, dass Thomas und Klein-Heinz nicht zu weit wegliefen, dass Claudia die Mütze nicht vom Kopf rutschte. Franziska würde sich auf keinen Fall beschweren, nein, sie würde heute Abend zu Mama sagen, dieser Tag sei doch ein Kinderspiel gewesen, niemand sollte je wieder zu ihr sagen können, sie lasse sich nur bedienen.
Als sie wieder zu Hause ankamen, hatte Amelie wirklich aufgeräumt und ein Kuchen stand im Backofen und duftete.
"Ist Mama wieder da?" fragte Franziska hoffnungsfroh.
Nein, Mama war nicht wieder da, also musste sie die Jacken, Stiefel, Mützen und Schals aller Waldkinder ausziehen, grob vom Dreck befreien und aufhängen oder ins Regal stellen. Ja, das war wieder so eine Arbeit, bei der man wirklich ins Schwitzen kam, und danach wäre eine kleine Pause schon angenehm gewesen, aber nein: "Wir decken jetzt den Tisch," rief Amelie, und schließlich konnte Franziska sie nicht hängen lassen.
"Wann Papa wohl wieder kommt?" Franziska schaute auf die Uhr. Über zwei Stunden war er jetzt weg, eine Stunde würde sie wohl noch durchhalten müssen.
Thomas und Klein-Heinz bekamen "ein Butterbrot zwischendurch", dann legten sie eine Tischdecke auf, die weiße Leinendecke, wenn schon, denn schon, das blaue Geschirr stellten sie darauf und dann schmückten sie den Tisch mit allem, was sie im Wald gefunden hatten. Auch den Ast legten sie darauf, genau in die Mitte, dazu kamen noch Birnen und Äpfel. Wie gut, dass sie einen so großen Tisch hatten.
Und als sie die Tafel anschauten - hier sah es aus wie im Wald, hier roch es wie im Wald - wurden sie übermütig: Der Tisch wurde zum Hexenhaus, die widerstrebende Amelie wurde mit Mamas Kittelschürze, einem Kissen im Rücken und einem karierten Küchentuch um den Topf wie an Karneval zur Hexe und Klein-Heinz und Thomas unter der gestrengen Regie von Franziska zum berühmtesten aller märchenhaften Geschwisterpaare. Als Hänsel und Gretel durch den Wald liefen, mit einem Brotstück in der Hand, und Hänsel das Brot auf den Boden krümelte, klingelte es. Klein-Heinz war am schnellsten und öffnete, die anderen kamen kurz dahinter. Da standen eine wildfremde Frau und ein junger Mann - und Amelie hatte einen Buckel und aus ihrem Ärmel ragte als verkrüppelte Hand die Wurzel, die die anderen eben aus dem Wald mitgebracht hatten!
Die fremde Frau strahlte sie an: "Hello, wir neue Nachbarn. Ich Esmeralda Tennesy-Müller und das Sohn Roland. Mein Mann arbeiten im Krankenhaus. Er bald kommen. Yes, yes." Amelie schüttelte die Hand der fremden Frau mit dem merkwürdigen Namen, "unsere Eltern sind nicht da". Sollte sie die Fremden hereinbitten? Sie hatte keine Ahnung. "Nein, das geht nicht, unsere Eltern haben uns verstoßen", rief da Klein-Heinz, schließlich hatte Franziska ihm das eben genauso erklärt.
"Na, wir kommen wieder ein anderes Mal. Yes, yes." Die Frau lachte beim Weggehen immer noch, und auch ihr Sohn drehte sich noch einmal lächelnd um.
"Die denken doch jetzt bestimmt, wir haben sie nicht mehr alle", schimpfte Amelie und riss sich das Kopftuch herunter.
"Ach Quatsch", Franziska winkte ab, "jetzt haben sie genau den richtigen Eindruck von uns."
Da begann Claudia, sich zu melden, und da half halt nichts mehr: Sie brachten sie zu Mama, "Stillkinder haben keine Geduld", sagte Oma immer, "die werden ja auch immer direkt bedient."
Mama lag wie ein kleines Kind tief eingekuschelt in ihrer Decke und war fest am Schlafen. Aber als Amelie die schreiende Claudia neben sie legte, wachte Mama ins grelle Licht blinzelnd auf.
"Willst du jetzt nicht mal wieder runterkommen?", fragte Franziska. "Papa ist auch noch nicht da."
"Nein", Mama schüttelte den Kopf. "Heute habe ich frei."
"Das müssten wir mal sagen", knurrte Franziska, als sie wieder nach unten gingen. Sie setzten sich an ihren schönen Tisch und gerade da kam Papa. "Typisch, jetzt, wo alles gemacht ist," Franziska hatte wirklich genug. War das erlaubt? Durften Eltern einfach verduften?
Papa staunte über den Wald in seinem Esszimmer und noch mehr über das gesamte Hänsel-und-Gretel-Ensemble. "Wenn du früher gekommen wärst, hättest du den Vater spielen dürfen. Jetzt gibt es eben keinen Vater." Und da nahm er Franziska einfach in den Arm. Thomas erzählte von den neuen Nachbarn. Und Mama kam endlich herunter.
"Oh, wie sieht das hier schön aus", staunte sie. "Und sogar einen Kuchen habt ihr gebacken." Sie strahlte. "Wie gut ist das, dass ich euch alle habe. Mein Herz ist ganz voll von Euch." Und da wussten alle, dass Mamas Auszeit vorüber war.
"Gott sei Dank", murmelte Franziska und biss herzhaft in den Kuchen. "Schmeckt ja fast besser als bei Mama."

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