Böhmermann spaltet die große Koalition

Berlin · Noch nie musste die Kanzlerin offen einräumen, dass es "unterschiedliche Auffassungen" im Kabinett gegeben habe. Gestern war es so weit. Das SPD-geführte Auswärtige Amt und das Justizministerium trugen die Entscheidung von Angela Merkel (CDU) nicht mit, der Justiz grünes Licht für Ermittlungen gegen den Satiriker Jan Böhmermann wegen "Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes" zu geben. Die große Koalition platzt trotzdem nicht.

Berlin. Zum ersten Mal gab es einen Regierungsbeschluss - ein solcher ist die Ermächtigung offiziell - gegen den ausdrücklichen Willen des Koalitionspartners. Allerdings, die SPD geht nicht so weit, deswegen die Koalition zu verlassen.
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, der die Entscheidung hinterher klar als "falsch" bezeichnete, sagte, Erdogan werde die deutsche Regierung nicht in Schwierigkeiten bringen. Die Sozialdemokraten nehmen ihre Niederlage also hin.
Schon seit die türkische Regierung Anfang der Woche gegenüber dem Auswärtigen Amt mitgeteilt hatte, sie bestehe wegen Böhmermanns Schmähgedicht gegen Präsident Erdogan auf ein Verfahren nach dem Paragrafen 103 des Strafgesetzbuchs - Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes - glühten intern die Drähte. Zunächst zwischen Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) und den zuständigen Staatsekretären im Auswärtigen Amt sowie im Innen- und Justizministerium, am Rande des Koalitionsgipfels dann zwischen Merkel, Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD), Justizminister Heiko Maas (SPD), Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) direkt. Denn hier standen Satire-, Meinungs- und Pressefreiheit und das geltende Recht zur Debatte. Auch spielten die Interessen Deutschlands in der Region vor allem wegen der Flüchtlingsfrage eine zentrale Rolle.
Selbst Donnerstagabend und Freitagmorgen fanden noch Gespräche statt. Als es zwischen den Ministerien keine Einigung gab, teilte Merkel schließlich mit, dass sie nun von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen werde. Eine förmliche Abstimmung gab es nicht. Nach Merkel traten auch Steinmeier und Maas gestern vor die Kameras und verkündeten, dass sie anderer Meinung gewesen seien und blieben.
Dabei gab es in dem Verfahren anfangs auf allen Seiten gegensätzliche Einschätzungen, unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Im Kanzleramt gab letztlich das Argument den Ausschlag, dass Deutschland nach außen hin mit einer Freigabe für staatsanwaltschaftliche Ermittlungen deutlich machen könne, dass über die Grenzen der Satirefreiheit anders als in der Türkei hierzulande nicht die Politik, sondern allein die Justiz entscheide.
Genauso begründete gestern auch Angela Merkel den Schritt. Sie las ihre sorgsam formulierte Stellungnahme Wort für Wort ab und ließ Nachfragen nicht zu. Steinmeier und Maas wenig später bei ihrem Presseauftritt übrigens auch nicht. Beide Seiten wollten offenbar kein weiteres Öl ins Feuer gießen.
Die Opposition kritisierte den Beschluss scharf. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter meinte, das Ganze wirke wie ein Einknicken vor Erdogan.
Und seine Kollegin von den Linken, Sahra Wagenknecht, twitterte: "Unerträglicher Kotau: Merkel kuscht vor türkischem Despoten Erdogan." SPD-Fraktionschef Oppermann hatte als Ausweg vorgeschlagen, den Paragrafen 103 kurzfristig zu streichen. "Eine Strafverfolgung von Satirikern wegen Majestätsbeleidigung ist in einer modernen Demokratie nicht mehr zeitgemäß", sagte er auch gestern.
In der Union und im Kanzleramt hatte es jedoch das Bedenken gegeben, dass eine nachträgliche Streichung wie Willkür aussehen würde, auch wenn Erdogan der Weg einer normalen Beleidigungsanzeige geblieben wäre, die er parallel ohnehin erstattete.
Allerdings, entkoppelt vom Fall Böhmermann, soll die Bestimmung nun tatsächlich fallen. Alle Fraktionen sind dafür. Der Paragraf sei "für die Zukunft" entbehrlich, sagte Angela Merkel und verkündete, eine Streichung noch in dieser Legislaturperiode anzustreben. Gut möglich, dass Erdogan der Letzte war, der die besonders vom Schah von Persien in den 1960er Jahren bemühte und nach ihm benannte Bestimmung nutzen konnte.

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