Die Höhle des (Carl) Loewe

TRIER. Für viele Musikfreunde ist das Weihnachtskonzert der Trierer Sängerknaben längst eine Institution geworden. In diesem Jahr erfreute Bruder Basilius Wollscheid unter anderem mit einer gehaltvollen Choralkantate des Balladenkomponisten Carl Loewe.

Wer 20 Minuten vor Konzertbeginn eintrifft, muss sich schon ernsthafte Sorgen um einen Sitzplatz machen. Dann ist die Trierer Pfarrkirche Heiligkreuz praktisch voll besetzt. Das traditionelle Weihnachtskonzert der Trierer Sängerknaben hat sich seit langem zu einer festen Größe im Musikleben der Stadt entwickelt. Und dass unter dem bescheidenen Titel "Mitglieder des Städtischen Orchesters Trier" praktisch der gesamte Trierer Klangkörper dabei ist, zeigt auch, wie eingewurzelt und fest gefügt dieses Konzert im allgemeinen Bewusstsein steht.Düsteres Pathos mit angestrengtem Beiklang

Dabei ist, vorsichtig ausgedrückt, die Vivaldi-Auffassung, die Bruder Basilius mitbringt, nicht gerade der letzte Schrei. So klingt das bekannte D-Dur-Gloria des Venezianers ziemlich konventionell und wirkt sogar ein wenig steif. Und auch die drei Hymnen, die das Programmheft Mozart zuschreibt, obwohl sie wahrscheinlich von jemand anderem stammen, - in ihnen trübt ein angestrengter Beiklang den hellen, optimistischen Grundton der beiden ersten Stücke und das düstere Moll-Pathos des letzten. Sogar das sonst leuchtend und differenziert musizierende Orchester gerät bei den kleingliedrigen Figuren, den akustischen Verästelungen dieser Partituren in Schwierigkeiten. Und doch: Solche Interpretations-Probleme schaden der Strahlkraft dieses Konzerts nicht. Die Knaben vor dem Altar, neuerdings in auffälligem Rot, sie singen, wie es Erwachsene wahrscheinlich gar nicht mehr können: mit einer enormen Präsenz, mit Engagement, Festigkeit und auch spürbarer Sensibilität. Groß ist dieser Chor wahrhaftig nicht. Aber der helle, leuchtende Klang der Knabenstimmen und der schlanke, substanzreiche Männerchorklang, sie tragen über das Orchester hinweg, transparent, konturenstark und bemerkenswert intonationsrein. Wie ein barockes Orgelwerk. Bruder Basilius Wollscheid hat Carl Loewes Choralkantate "Vom Himmel hoch" an den Anfang des Konzerts gestellt. Ein Beginn und ein Höhepunkt zugleich. Annette Johansson intoniert die erste Choralzeile in Ton und Stil einfach vorbildlich. Vera Ilieva, Peter Koppelmann und Andreas Scheelsie nehmen diese schlanke, diese sensibel-gradlinige Vorgabe auf und bestechen mit einer Reinheit, die zumindest bei Opernsängern ungewöhnlich ist. Dann der Chor und das sorgfältig musizierende Orchester: romantische Kirchenmusik, feierlich und doch kein bisschen salbungsvoll. Bruder Basilius trifft den gehaltvoll-schlichten Tonfall dieser Musik genau. Den vorletzten Satz lässt er sacht tänzerisch ausschwingen. Ein Menuett, eine Erinnerung ans 18. Jahrhundert. Loewe hat die Nostalgie schon mitkomponiert. Vielschichtige Musik. Und dazu das überzeugende Ergebnis einer immerwährenden Aufbauarbeit. Kaum musikalisch qualifiziert und gesangstechnisch geschult, verabschieden sich die Jungen in den Stimmbruch, der heute viel früher eintritt als noch vor 50 Jahren, und die Arbeit beginnt von vorne. Sisyphos müsste heute einen Knabenchor leiten.

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