Laues Lüftchen in der Hauptstadt

Berlin · Der Ausgang der Berlinale ist so offen wie selten zuvor. Viele durchschnittliche Filme machen das Rennen um den Goldenen Bären spannend. Am Ende könnte ein Außenseiter aus Polen der strahlende Sieger sein.

Berlin. Nach einer frischen Brise kurz nach dem Ablegen hat die Berlinale fast keinen Wind mehr in den Segeln. Das trifft in diesem Jahr nicht nur auf Steven Soderberghs Pharma-Drama "Side Effects" zu, das nach einer starken ersten Hälfte in eine krude Verschwörungsfantasie abdriftet und schließlich untergeht, sondern bislang auf den gesamten Wettbewerb. Die fünf noch ausstehenden Filme im Wettstreit um den Goldenen Bären werden das Ruder wohl kaum herumreißen.
Die Berlinale droht zu kentern - wieder ein Mal. Allerdings nur bei den Kritikern, das Publikum stimmt weiterhin mit den Füßen ab, ein neuer Zuschauerrekord ist bereits vier Tage vor dem Ende erreicht. Die hoch gehandelten Favoriten haben die Erwartungen (größtenteils) enttäuscht, kleine Produktionen haben hingegen überrascht. Der Kampf um die Bären ist offen wie lange nicht mehr.

"PARADIES: Hoffnung": Ulrich Seidls Abschluss seiner Paradies-Trilogie zählt zu den Verlierern des Wettbewerbs. Die Geschichte um die 13-jährige Melanie (Melanie Lenz), die sich in einem Diät-Camp in ihren 40 Jahre älteren Arzt verliebt, ist der sanfteste, darum aber auch der schwächste Film der Reihe. In präzise arrangierten Tableaus prangert Seidl das Schönheitsideal der westlichen Hemisphäre an. Am Ende bleibt der Zuschauer davon jedoch seltsam unberührt.

"Gold": Noch weniger holt einen Thomas Arslans Western "Gold" ab. Der Regisseur lässt den Zuschauer bereits an der Bahnstation im kanadischen British Columbia stehen, an der seine Protagonistin Emily (Nina Hoss) ankommt. Arslans Film über eine Gruppe deutscher Auswanderer, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts dem Goldrausch erliegen, versucht das Genre zu dekonstruieren. In gewohnt kargen, lieblos aneinandergeschnittenen Einstellungen agieren die Schauspieler, als ob sie auf einer Theaterbühne stünden und nicht in den Weiten des kanadischen Westens. Erzählt wird praktisch nichts - zu wenig für einen Bären.

"The Necessary Death of Charlie Countryman": Jede Menge erzählt hingegen Fredrik Bond. Die Geschichte um den jungen Charlie (Shia LaBeouf), der nach dem Tod seiner Mutter von Chicago nach Bukarest reist, sich dort in die falsche Frau verliebt und mit den falschen Leuten anlegt, ist ein bonbonbunter Mix aus Liebesgeschichte, Videoclip und Gangsterfilm. Was die belanglose Story in tausendfach gesehenen Bildern jedoch im Wettbewerb verloren hat, bleibt ein Rätsel.

"Gloria": Im Rennen um den goldenen Bären völlig richtig aufgehoben ist Sebastian Lelios "Gloria". Mit der Geschichte um die 58-jährige Chilenin Gloria (Paulina Garcia) nahm die Berlinale zwischenzeitlich noch einmal Fahrt auf. Mit viel Humor und Mitgefühl für seine Protagonistin inszeniert Lelio einen Ausschnitt aus dem Leben einer geschiedenen Frau, Mutter und Großmutter, die ihren Alltag zwischen Arbeit, Vereinsamung und Sehnsucht nach einer neuen Liebe mit Würde bestreitet. Paulina Garcia spielt das überzeugend unaufgeregt. Ein silberner Bär als beste Hauptdarstellerin dürfte ihr damit sicher sein. Am Ende könnte es gar der goldene für "Gloria" werden.
"Pardé": Ebenfalls ein heißer Anwärter auf den Goldenen Bären ist "Pardé". Jafar Panahi legt darin gemeinsam mit seinem Ko-Regisseur Kamboziya Partovi sein Seelenleben offen. Alles in diesem Film ist doppelt codiert, die Handlung eine groß angelegte Allegorie. Das Haus eines Schriftstellers, in das eines Nachts eine Fremde eindringt, steht für den im Iran mit einem Arbeitsverbot belegten Panahi selbst, der Schriftsteller für dessen Kreativität, die Fremde für die Melancholie, die den Regisseur heimsucht. Panahi und Kamboziya laden ihr Kammerspiel mit vielen Symbolen auf, am Ende allerdings mit zu vielen. Gute Chancen auf einen Bären hat "Pardé" trotzdem - alleine schon wegen des politischen Symbolgehalts.

"W Imie ...": Der stärkste Film im Wettbewerb kommt ebenfalls aus dem Osten. Im polnischen "W Imie ..." geht es um den katholischen Priester Adam (Andrzej Chyra), der aus Warschau in die Provinz versetzt wird. Das hat seine Gründe. In überwältigenden Bildern inszeniert Regisseurin Magolska Szumoska den Konflikt eines Mannes zwischen Glauben, Homosexualität, Entsagung und Trieb. Chyra liefert die bisher beste Leistung eines männlichen Hauptdarstellers ab. Doch ob sich die Jury am Ende traut, ein so brisantes wie aktuelles Thema mit dem Goldenen Bären auszuzeichnen? Es wäre an der Zeit.

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