Geschichte Nach dem Pogrom 1938: Das Ende jüdischen Lebens in Wittlich

Wittlich · Verfolgt, geächtet, deportiert: Eine Erinnerung an  Berta Sänger, Emma Mendel und an ihre Unterstützer.

 Das letzte Foto der Familie, datiert von 1938: Emma Mendel (links), Paul Sänger mit Frau Gertrud und Sohn Hans sowie  Amalie Sänger (Mitte) und Berta Sänger (rechts).

Das letzte Foto der Familie, datiert von 1938: Emma Mendel (links), Paul Sänger mit Frau Gertrud und Sohn Hans sowie  Amalie Sänger (Mitte) und Berta Sänger (rechts).

Foto: TV/Carlos Sänger

Wenige Tage nach dem Pogrom vom November 1938 berieten Propagandaminister Joseph Goebbels und der Beauftragte für den kriegswichtigen „Vierjahresplan“ Hermann Göring mit hohen Beamten im Reichsluftfahrtministerium über den weiteren Kurs des NS-Regimes zur vollständigen Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und deren endgültiger Ausgrenzung und Entrechtung.

Von Göring sind zwei markante Sätze aus dieser Sitzung überliefert: „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und nicht solche Werte vernichtet.“ Die tatsächlichen Opferzahlen lagen – wie wir heute wissen – weit höher. Was Göring zum Verlust an Sachwerten anmerkte und seinem Konkurrenten in der NS-Führungsriege, Goebbels als treibender Kraft beim Pogrom, zum Vorwurf machte, spiegelt auch die Reaktion vieler „Volksgenossen“ wider: Wirkliches Mitgefühl für die menschliche Not der „jüdischen Mitbürger“ war eher die Ausnahme. Und auch der zweite überlieferte Göring-Satz war nicht Ausdruck von Mitempfinden, sondern zynischer Kommentar zur realen Lage der durch den Pogrom verschärften Existenznot deutscher Juden: „Ich möchte kein Jude in Deutschland sein.“

Nach dem Novemberpogrom war auch in Wittlich jüdisches Leben zum Erliegen gekommen: Die Synagoge war schwer geschändet, die jüdische Schule nicht mehr zu nutzen. Wer noch fliehen konnte, verließ die Heimat. Das gelang vor allem jüngeren Menschen. Zurück blieben die Alten – so auch die unverheiratete Emma Mendel mit ihrer seit 1935 verwitweten Schwester Berta Sänger in der Hindenburgstraße 4 (heute: Trierer Straße). Als Bertas ältester Sohn, der schon 1933 in Beuthen/Oberschlesien zwangsweise in den Ruhestand versetzte Staatsanwalt Paul Sänger, im Sommer 1935 von Frankfurt/Main nach Wittlich ziehen wollte, um für seine Mutter und seine Tante die Ausreise zu organisieren, war dies nicht möglich. Die Wittlicher Stadtverordneten hatten nämlich unter anderem beschlossen, dass kein Jude mehr nach Wittlich ziehen durfte. Davon hatte Paul Sänger in einer Frankfurter Zeitung gelesen – auch andere überregionale Zeitungen wie das Pariser Tageblatt hatten über diese Wittlicher Sondermaßnahme zur lokalen Regelung der „Judenfrage“ berichtet.

 Die Wittlicher Stadtverordneten hatten  beschlossen, dass kein Jude mehr nach Wittlich ziehen durfte. Darüber berichtete auch das Pariser Tageblatt. 

Die Wittlicher Stadtverordneten hatten  beschlossen, dass kein Jude mehr nach Wittlich ziehen durfte. Darüber berichtete auch das Pariser Tageblatt. 

Foto: TV/Franz-Joef Schmit

Die Familien Mendel und Sänger gehörten zu den schon lange in Wittlich lebenden jüdischen Familien und waren als Metzger und Textil- und Spielwarenhändler tätig. Emma Mendel war 1938 schon 66 Jahre alt, ihre Schwester Berta drei Jahre älter. Die nach 1938 in Wittlich verbliebenen und verarmten Juden mussten sich so gut es ging untereinander helfen. So fanden Berta und Emma noch einige Zeit Unterschlupf bei Verwandten, der Metzgerfamilie Oskar und Irma Mendel. Der NS-Staat hatte sich durch die „Verordnung über die Fürsorge für Juden“ vom 19. November 1938 aus der Wohlfahrt für Juden verabschiedet und diese Aufgaben der neu geschaffenen „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ übertragen, die aber nur über sehr begrenzte Mittel verfügte. Die Kinder und Verwandten im Exil hatten selbst schwer zu kämpfen, um sich eine neue Existenz aufzubauen, was wirklich erst gelang, als Ende der 1950er Jahre „Wiedergutmachungszahlungen“ sie erreichten.

Wer sich von den „Volksgenossen“ zurückgebliebener jüdischer Menschen annahm, musste mit Diffamierungen und Sanktionen rechnen – die Gestapo-Karteien geben Zeugnis davon, wie schnell man als „Judenfreund“ oder „Juden-
knecht“ denunziert wurde. Und doch gab es Menschen, denen das Schicksal ihrer „jüdischen Mitbürger“ nicht gleichgültig war. Elisabeth Lautwein (1889-1980) entstammte einer kinderreichen Familie und absolvierte in Belgien ihre Ausbildung als Säuglings- und Kinderkrankenschwester. Zu ihrer Tante Elisabeth berichtet eine Nichte: „Elisabeth war eine eher strenge, verschwiegene Person mit ausgeprägtem Gerechtigkeitsgefühl, die sich nie in den Vordergrund drängte, sich aber auch nur ungern unterordnete. Sie wurde wegen ihrer guten Fachkenntnisse häufig angefragt und eingestellt von reichen, teilweise adeligen Familien als Betreuerin der Wöchnerin und des jeweiligen Säuglings vor und nach der Geburt. So arbeitete Elisabeth auch bei der Familie der Porzellanmanufaktur Villeroy & Boch in Mettlach.“

Die unverheiratete Elisabeth und ihre Verwandten unterhielten auch in Wittlich gute Beziehungen zu Juden und kauften weiterhin trotz Verbotes in jüdischen Geschäften ein. Vermutlich hat Elisabeth Lautwein die Pflege der beiden jüdischen Frauen aufgenommen, als die Mendels Ende 1937 nach Schweich umziehen mussten – von dort wurden diese 1941 ins Getto Lodz deportiert. Auch nach der Einlieferung der beiden Jüdinnen ins Kreiskrankenhaus hat sich Elisabeth Lautwein um Emma Mendel und Berta Sänger gekümmert. Dass dies überhaupt möglich war, ist zwei weiteren Personen zu verdanken.

Kreisbürodirektor Wilhelm Enck, oberster Verwaltungsbeamter der NSDAP-Kreisleitung und seit 1943 stellvertretender Stadtbürgermeister, sorgte für den notwendigen Handlungsspielraum, wie die Oberin der Dernbacher Krankenhausschwestern, M. Richtrude Fabry, 1948 eidesstattlich erklärte: „Alle Schwierigkeiten, die von Seiten der Partei den Schwestern und dem Hause entstanden, konnte ich mit dem verwaltungsmäßig zuständigen Kreisbürodirektor Enck überwinden. Als besondere Fälle möchte ich anführen, dass zurzeit der Judenverfolgungen im Krankenhaus zwei jüdische Frauen untergebracht waren. Zur Abwendung der diesen Frauen drohenden Verfolgungsmaßnahmen übernahm Wilhelm Enck auf meine Bitte die Verantwortung für diese Kranken. Dank seiner Tatkraft, besonders seines menschlichen Fühlens und Denkens gelang es, den oben namentlich genannten Kranken den ungestörten Aufenthalt in unserem Hause bis zu ihrem Tode zu ermöglichen.“

Die Juden, die 1940 noch in Wittlich oder dem Kreis Wittlich lebten, wurden fast ausnahmslos ab Mitte Oktober 1941 in den Osten deportiert und ermordet. Berta Sänger starb am 25. Oktober 1940 nach einem Blutsturz im Kreiskrankenhaus. Emma Mendels Leben endete am 22. März 1941 nach einem Schlaganfall.

Bestattet sind die beiden Schwestern in einem gemeinsamen Grab, dem letzten, das auf dem Wittlicher Judenfriedhof angelegt wurde. Für den später gesetzten Grabstein sorgten die Kinder – mehr konnten sie aus dem Exil nicht tun.

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