Vom Zauber des Verfalls

Er liebt das Geheimnisvolle, den Zauber der vergessenen Orte: Rafael Zimmer fotografiert seit Jahren einsame Gemäuer. Heimlich steigt er in ein Hotel, einen Bahnhof oder, an diesem Tag, in eine Industrieruine ein. Dort lässt er kunstvolle Bilder entstehen und spricht von seiner Begeisterung für den Verfall.

Schnell sein, leise, unauffällig. Das ist wichtig, unerlässlich. Sich nicht erwischen lassen. So schnell wie möglich in Richtung Industriehalle. "Rennt mir hinterher", sagt Rafael Zimmer leise, aber bestimmt. Motorgeräusche sind aus der Ferne zu hören, sie kommen näher. Alle verstecken sich hinter einem Busch. Ausatmen, einatmen. Er achtet auf das Auto. Bleibt es stehen? Einatmen, ausatmen. Das leise Brummen entfernt sich. Glück gehabt. Noch ein paar Meter sind es bis zum Eingang der riesigen verlassenen Industriehalle, in der Rafael fotografieren möchte.
Unter der Halle liegt eine Art Keller. Rafaels erstes Ziel. Es ist früh morgens, die ersten Sonnenstrahlen berühren den riesigen Komplex aus Beton. Aber mit einem Sprung in die Tiefe geht es hinab ins Dunkle. Schlagartig wird es kühl. Es riecht modrig, feuchte Luft steht im Raum. Große rostige Industrieschächte aus Stahl wachsen aus der Decke. Durch sie warfen wohl einst Arbeiter Material, das sich unten sammelte. Nun staut sich dort Wasser, mindestens zwei Meter hoch. Daneben ein schmaler Pfad aus Beton. Rafael berührt die Wand mit seinen Händen. Er kommt behutsam voran, und sucht Halt an der Wand, um nicht ins Wasser zu fallen. Am Ende des Kellers angekommen findet er gerade so Platz für sein Kamera-Ausrüstung.
Rafael und seine Freundin kennen solche Situationen. Sie haben schon größere Schwierigkeiten gehabt, in einen Lost Place (verlassener Ort) einzusteigen. "Wenn eine Sechs leicht ist und eine Eins schwer, dann ist das heute vielleicht eine Vier bis Fünf", sagt er.
Rafael ist 37, hat lange, schwarze, gelockte Haare, die zu einem Zopf zusammengebunden sind. Schwarze schlichte Hosen, legeres Shirt, schmale Statur. Er wirkt viel jünger. Vor allem: unauffällig. Für sein Kamera-Ausrüstung trägt er stets den Rucksack auf dem Rücken. Perfekt, wenn man klettern, springen und durch Gänge schleichen muss. Der Gärtnermeister, der in Trier seine Ausbildung gemacht hat, hat sich die Fotografie selbst beigebracht. Er kennt sich in der Region aus, wo er momentan lebt, möchte er lieber nicht verraten.
Konzentriert positioniert er die Kamera in Richtung Wasser. Dreht leicht das Objektiv hin und her. "Ich mache zuerst ein paar Testschüsse."
Als Rafael 15 Jahre alt war, begann seine Leidenschaft. Er lebte damals mit seiner Familie im afrikanischen Kongo. "Auf einem Surfbrett paddelte ich mit einem Freund aus der Jesuitenschule über einen See. Da wollte mir mein Freund etwas zeigen", erzählt er. Sie glitten auf einen Steg zu, der mit Schilf zugewuchert war, schlichen durch Gräser und entdeckten einen Eukalyptuswald. Dort stießen sie auf eine große, mit Efeu zugewachsene Treppe. "Es war total still." Vögel zwitscherten. Bäume rauschten. "Und auf einmal sah ich dieses riesige alte Anwesen. Da war ich ganz gebannt." Schon als Jugendlicher wusste er, dass es nicht erlaubt ist, private Grundstücke zu betreten, doch der Reiz war größer. "Ich habe diese Kulisse geliebt, den Schauplatz." Für Rafael ist Verfall etwas Schönes. "Ich mag es, wenn die Natur das Haus zurückerobert." Das zu dokumentieren, fasziniert ihn. Langsam drückt er auf den Auslöser. Klick. Klick. Klick. Stahlträger, rostige Stellen und kaputte Kabel sind auf dem Kameradisplay zu sehen. Die alten Schächte spiegeln sich im Wasser. Was zählt, ist die richtige Kulisse, das perfekte Motiv. Wenn Rafael einen ganzen Tag fotografiert, hat er meistens zwei Bilder, mit denen er vollkommen zufrieden ist. Er achtet auf Details, liebt Nahaufnahmen. "Ich mag die Wirkung der Farben im Dämmerlicht, dieser Kontrast zwischen den verschiedenen Farben des Verfalls und den dunklen Stellen", erklärt er. Klick. Immer wieder wartet er, betrachtet die Kulisse und richtet das Stativ neu aus. Klick.
Dieses Anwesen in Afrika ging Rafael nicht mehr aus dem Kopf. "Jahre später, als ich schon längst wieder in Deutschland lebte, wollte ich an diesen Ort zurückkehren, um Fotos zu machen und zu filmen." Seine ersten Fotos von einem Lost Place machte er dort. Es wurden immer mehr. "Das Hobby hat einen gewissen Suchtfaktor. Man will neue Ideen, neue Bilder." Er ist wegen seines Hobbys durch ganz Europa gereist.
"Wir gehen jetzt nach oben." Der Wind pfeift, Türe quietschen. Er läuft zögerlich, bedacht, kontrolliert. Viele Stufen sind marode, eingerissen. Die Fenster des Treppenaufganges sind zerbrochen. Es knirscht, wenn er auf das Glas der eingeschlagenen Fensterscheiben und die kleinen Steinchen auf dem Boden tritt. Er hält inne. "Hat da jemand gepfiffen?", flüstert Rafael. "Das war ich, sorry", sagt seine Freundin leise. Beide beginnen laut zu lachen. Ein kurzer Moment der Entspannung. "Manchmal wäre ich froh, wenn es legal wäre, die Gebäude zu betreten. Dann hätte ich mehr Zeit für die Fotos", sagt Rafael. Auf der anderen Seite begrüßt er das Verbot: "Wäre es legal, würden die Gemäuer eher als Partystätte genutzt, oder es gäbe mehr Vandalismus." Er sei in all den Jahren noch nie angezeigt worden, auch wenn er erwischt worden sei, "der Umgang mit den Leuten ist wichtig, und wie man mit ihnen redet", sagt er. Er erkläre in solchen Situationen, dass er nur Fotos mache und keine anderen Absichten habe.
Oben angekommen: Der Raum ist sonnendurchflutet. Licht fällt durch offene Stellen in der Decke. Weißer Staub bedeckt den Boden. Weich wie Mehl. Zwischendrin sind Löcher der Industrieschächte, die metertief in die Tiefe führen.
Rafael positioniert seine Kamera, denkt nach. Kurz darauf rennt er durch den Staub und wirbelt ihn mit den Händen auf. "Das sieht nachher in dem Licht richtig gut aus", sagt er. Seine Freundin wartet an der Kamera und auf den richtigen Zeitpunkt zum Auslösen. "Jetzt", ruft Rafael und rennt aus dem Bild. Klick.
Er geht nie allein an einen Ort. Das ist eine der wichtigsten Regeln unter den Lost-Places-Fotografen (siehe Extra). Nie allein raus. "Mindestens zwei Personen, aber drei Leute sind ideal."
Viele Gebäude seien marode und heruntergekommen. "Wenn man irgendwo stecken bliebe und niemand da wäre - nicht auszudenken." Bisher ist ihm wenig passiert. "Ich habe mich einmal verletzt, als ich an einem Zaun hängen geblieben bin."
Immer gewissenhaft sein, immer konzentriert. Rafael zerstört nichts und biegt nichts um. "Wir verschaffen uns keinen gewaltsamen Zugang zu den Orten." Lost-Place-Fotografen möchten den Schauplatz nicht verändern. "Man sollte alles so verlassen, wie man es vorgefunden hat", sagt Rafael. Es wird nichts mitgenommen.
Rafael will keine Spuren hinterlassen. Ruhig alle Sachen packen. Den Treppenaufgang hinunter. Schritt für Schritt. Rennen ist in Ordnung, aber leise. Durchs Gebüsch geht\'s zurück zum Auto. Allmählich legt sich die Spannung. Weißer Staub an Hose und Shirt erinnert an das abenteuerliche Erlebnis. Und die Fotos. Ein bleibendes Zeugnis der außergewöhnlichen Reise. Aufatmen.
Der beschriebene Ort liegt irgendwo zwischen Trier und Luxemburg und bleibt auf Wunsch des Fotografen namenlos.
Extra

Die Motivation der Lost-Place-Fotografen unterscheidet sich enorm. Einige interessieren sich besonders für den historischen Hintergrund der Plätze, die sie ablichten. Andere konzentrieren sich auf die Ästhetik, manche lieben den Reiz des Verbotenen. Auch die Motive variieren stark. Jeder Ort, der verlassen ist, kann ein Lost Place sein: Villen, Schlösser, Bahnhöfe, alte Cafés, Einkaufszentren, Hotels. In der Regel werden die Bilder im Internet auf eigenen Blogs, in Internet-Communities oder geschlossenen Facebook-Gruppen hochgeladen. Laut Rafael Zimmer gibt es diese Art Fotografie weltweit. Es gebe einige Tausend Fotografen. Allein in den ihm bekannten Foren kämen täglich neue hinzu.sjs

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