Schlaflos in Tokio: Frauen feiern, Männer zittern

Tokio (dpa) · Die deutschen Turnerinnen durften bei der WM in Tokio ihre Olympia-Teilnahme schon feiern, die Männer müssen noch zittern:

Nach ihrer recht durchwachsenen Vorstellung in der Qualifikation lag die Riege um Fabian Hambüchen und Philipp Boy trotz des verletzungsbedingten Ausfalls von Thomas Taranu am Sprung und einem enttäuschenden Auftritt am Pauschenpferd mit 354,152 Punkten hinter Japan (364,291) und den USA (362,583) auf dem dritten Rang. Jetzt müssen die deutschen Asse auf der Tribüne tatenlos zuschauen, was die restliche Konkurrenz macht. An diesem Montag fällt die endgültige Entscheidung über die acht Team-Fahrkarten für London.

„Ich säße jetzt gern mit Kollegin Ulla Koch in einem Boot, dann könnten wir gemeinsam nach London rudern“, spekulierte Cheftrainer Andreas Hirsch, aber auch für die deutschen Turner sollte es reichen. „Das war ein ganz schwerer Wettkampf. Ich habe gespürt, dass ich noch lange nicht bei 100 Prozent bin“, meinte Vorturner Hambüchen, für den Licht und Schatten dicht beieinander lagen.

Mit einem Patzer am Pauschenpferd verdarb er sich den Einzug in das Mehrkampf-Finale und muss als zwischenzeitlich Zwölfter (87,507) seinen Teamgefährten Boy (6./88,697) und Marcel Nguyen (8./88,464) den Vortritt lassen, weil nur zwei Deutsche den Endkampf erreichen können. Mit einer Glanzübung am Reck wahrte der Hessen als Dritter (15,50) die Medaillenchance.

„Ich denke, das wird für Olympia reichen und dann greifen wir im Team-Finale volles Rohr an“, meinte Boy. Der Europameister wackelte gleichfalls am Pferd, hatte einen Landungsfehler am Boden und verspielte damit die Chance auf eine bessere Platzierung. Im Mehrkampf feierte er aber seinen ersten Erfolg über Hambüchen im internen Duell. Vage Chancen hat der Lausitzer auf den Finaleinzug am Barren (6.) und am Reck (5.).

In der Stunde der Entscheidung hatten die Deutschen einen miserablen Start am „Zitterpferd“. Als schließlich Taranu beim Einturnen am Sprungtisch nach der Landung mit gestrecktem Knie verletzt passen musste, schien Olympia in Gefahr. Doch mit Kampfgeist und Routine kämpften sich die Deutschen durch den Wettkampf.

Die Frauen hatten es vorgemacht. Mit einem nie für möglich gehaltenen siebten Platz schafften sie gleich im ersten Anlauf den Sprung nach London - ihre Vision „Tannenbaum statt Kienbaum“ wurde Wirklichkeit. Die Trainer stießen darauf bis zum „Last Call“ an der Hotelbar an, die Turnerinnen konnten vor Aufregung kaum schlafen.

„Wir sind wahnsinnig froh, denn in Kienbaum kann man nicht Weihnachten feiern“, meinte Cheftrainerin Ulla Koch, nachdem ihre Schützlinge als drittbestes Team Europas die London-Tickets gebucht hatten. Alle Mannschaften auf den Plätzen 9 bis 16 müssen nun auf die zweite Chance hoffen, den Deutschen hätten in diesem Falle vor dem Jahreswechsel quälende Trainingswochen im Camp Kienbaum gedroht.

Die neuen Hoffnungsträgerinnen hatten das beste Ergebnis einer deutschen WM-Riege seit 1989, als in Stuttgart das DDR-Team auf Platz fünf gekommen war, auch viele Stunden später nicht richtig verarbeitet. Keine konnte im Hotel Tokyo Prince ein Auge zumachen. So kam der TV-Dreh am Zojoji-Tempel am Sonntag zur Entspannung gerade recht.

Zuvor hatten sie nicht nur mit Bravour ihren Wettkampf bestritten, sondern auch sieben Stunden lang gebangt, dass nicht noch andere Teams vorbeiziehen. Gegen 21.30 Uhr waren die Frauen in den weißen Trainingsjacken schließlich die glücklichsten Turnerinnen der Welt und lagen sich auf der Tribüne in den Armen. „Diese Stunden des Wartens waren viel schlimmer als Training oder Wettkampf. Diese WM ist schon jetzt unglaublich“, sagte Vize-Europameisterin Elisabeth Seitz, die mit 56,733 Punkten als Siebte ins Mehrkampffinale einzog.

Da konnte sie auch verkraften, dass sie ihr zweites großes Ziel, der Einzug ins Stufenbarren-Finale, knapp verpasste. Dafür präsentierte die Mannheimerin dort ihr selbst kreiertes Element, den Aufschwung von unteren zum oberen Holmen mit ganzer Drehung, der nun den Namen „Seitz“ tragen wird. Altmeisterin Oksana Chusovitina greift im Sprung sogar nach ihrer elften WM-Medaille.

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