KOLUMNE

Die Anzeige in der Familienzeitschrift war ein verzweifelter Hilferuf. "Suche dringend einen neuen Plüschtiger von Sigikid für meine dreijährige Tochter. Knautschi ist auf einer Autobahnraststätte verloren gegangen." Die Tragödie, die hinter solch dürren Zeilen steht, kann nur nachempfinden, wer die Tränen über den Verlust des geliebten Kuscheltieres bei seinen eigenen Kindern erlebt hat.

Wie an jenem ersten Weihnachtstag, als wir mit unserer damals zweijährigen Michelle auf Besuch bei ihrem Patenonkel waren. Unvermutet hatte gegen Abend heftiger Schneefall eingesetzt, und wir brachen überhastet auf, bevor sich die Schneedecke auf dem Berg zwischen Piesport und Klausen schloss. Doch kaum heil daheim angekommen, fragte meine Frau: "Wo ist Gretel?" Diese Frage war höchstens vergleichbar mit dem beliebten Suchspiel vor dem Traualtar "Wo sind die Ringe?". Aber hier waren die Auswirkungen noch fürchterlicher. Gretel ist Michelles Lieblingspuppe, nicht mehr so hygienisch sauber aufgrund Hunderten von Küssen und mit einem löchrigen rosa Kleidchen. Aber sie war der einzig wirksame Baldrian-Ersatz, der unsere kleine Prinzessin ins Schlummerland führte. Und Gretel hatten wir in Piesport vergessen! Was wog nun mehr? Die musikalische Untermalung des restlichen Weihnachtsfestes durch das Geheul unserer Zweijährigen, oder Leib und Blech riskieren im beginnenden Schneesturm? Hatte ich eine Wahl? Auf jeden Fall überstanden Auto und ich das Wettrennen mit Frau Holle, und wenig später schlief eine glückliche Tochter mit ihrer Gretel im Arm ein. Den Verlust des liebsten Kuscheltieres hatte ich noch drastischer am eigenen Leibe erfahren müssen. Bubu war sein Name, dieser kleine Teddybär, mit dem ich meine ersten Lebensjahre zusammen verbrachte. Seine Knopfnase hing nur noch an einem Faden, beide bernsteinfarbenen Augen waren mehrfach wiederangeklebt, und auch sonst war er bis zur Unkenntlichkeit geherzt worden. Sein ramponiertes Äußeres und der Umstand, dass ich ihn mit fünf Jahren immer noch an die Brust drückte, waren ein Dorn im Auge einer Tante, so dass sie ihn eines Tages vor meinen Augen im holzbefeuerten Küchenofen meiner Großmutter verbrannte. Durch die Unwiderruflichkeit ihrer Tat nahm sie sich jede Chance, jemals meine Lieblingstante zu werden. Aber seit jenem Ereignis kann ich nachempfinden, welche Schicksale hinter der Zeitungsüberschrift "Suche Kuscheltier" stehen. Und ich wünsche den kleinen Schmusebedürftigen, dass sie ihre Knautschis, Gretels und Bubus bald wieder in ihre Arme schließen können. Frank Schmitt In unserer Kolumne "Familienbande" glossieren wechselnde Autoren den familiären Alltag.

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