Scheuklappen abnehmen!

Die medizinische Versorgung in Deutschland ist weltweit spitze. Darüber wird wenig geredet. Aber wenn es um Missstände geht, wird nicht nur von Politik und Öffentlichkeit, sondern auch vom Fachpersonal selbst regelmäßig das ganze System in frage gestellt. Das ist nicht grundsätzlich falsch, aber der Brocken ist zu groß, der da weggewälzt werden soll.

Er muss Stück für Stück abgetragen werden. Wie viele Regierungen haben sich schon an einer umfassenden Gesundheitsreform versucht und dann doch nur ein bisschen herumgedoktert? Wie lange wissen wir schon, dass in einer insgesamt älter werdenden Gesellschaft ärztliche und pflegerische Leistungen immer stärker nachgefragt und neu priorisiert werden müssen? Wie sieht das Bezahlmodell der Zukunft aus? Die Gesundheit ist ein riesiger Markt, auf dem Bedürfnisse von Patienten, ethische Ansprüche an Ärzte und von Ärzten an sich selbst, Wirtschafts- und Klientel-Interessen, politische Vorgaben und rechtliche Rahmenbedingungen - wenn überhaupt - nur sehr schwer unter einen Hut zu bringen sind. In dieser Woche haben Ärzteverbände gegen ein Berufsmodell protestiert, das in den USA und Großbritannien bereits gängige Praxis ist und vereinzelt auch in Deutschland existiert. Es ist der Arztassistent, der von der Qualifikation her zwischen Arzt und Krankenschwester angesiedelt ist, weisungsgebunden Mediziner von Routinearbeiten entlastet und auch kleinere Eingriffe vornehmen soll.

Private Hochschulen bieten entsprechende Studiengänge mit Bachelor-Abschluss an. Ärztefunktionäre fürchten sicher nicht zu Unrecht, dass aus Kostengründen immer mehr Arztstellen durch solche Hilfsärzte ersetzt werden sollen und verweisen auch auf ungeklärte Haftungsfragen.

Dieselben Funktionäre klagen aber schon seit Jahren - ebenfalls zu Recht - über die immer stärkere Belastung der Ärzte, die Patienten oft im Minutentakt abfertigen müssen sowie die unverantwortlich langen Arbeitszeiten in den Kliniken.

Gleichzeitig ist der Fachärztemangel besonders in ländlich geprägten Regionen Fakt. Und Hausärzte, die in Rente gehen wollen, finden oft keine Nachfolger mehr. Patientenverbände prangern regelmäßig mangelnde Kommunikation und fehlende Aufklärung von Arzt zu Patient an. Für solcherart Dienstleistung fehlt häufig die Zeit. Und das in einem Beruf, der wie kaum ein anderer ein Höchstmaß an Empathie erfordert. Es ist ja schon heute so, dass Ärzte ganz pragmatisch, aber ohne rechtliche Grundlage, Elemente der Behandlung an ihre Helfer delegieren.

Da sollte über einen Mittelbau zwischen Pflege und Spezialistentum doch wenigstens einmal ohne Scheuklappen nachgedacht werden. Nicht jedes Krankheitsbild ist so komplex, dass man für Diagnose und Behandlung gleich eine medizinische Spitzenausbildung bräuchte.

Isabell Funk
Chefredakteurin

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