Die Last mit der Vergangenheit

Die Deutschen haben sich in den letzten sechzig Jahren nicht besonders geschickt angestellt mit der Bewältigung ihrer jüngeren Vergangenheit. In den Fünfziger Jahren herrschte das große Verdrängen, Fragen waren tabu, und wer auf ihrer Beantwortung beharrte, wurde als Nestbeschmutzer gebrandmarkt. In den Sechzigern schlug die jüngere Generation zurück: Angeekelt von der Schweigespirale wurde nicht mehr gefragt, sondern angeklagt. Dem folgte ein belehrender Aufklärungseifer in den Siebzigern und ein wachsender Verdruss in den Achtigern und Neunzigern, als sich die alten Verdränger und die jungen Spaßgesellschaftler darin einig waren, mit dem "ganzen alten Zeug" möglichst nicht mehr behelligt zu werden. Das Problem ist: So richtig geredet über das, was damals passiert ist, wurde nie. Oder wenn, dann nur als Pflichtübung, im Fernsehen, im Bundestag oder in der Schule. Aber nicht in der Familie, im Freundeskreis, also da, wo wirklich kommuniziert wird. Die Frage der Schuld stand, ausgesprochen oder nicht, immer im Weg und hemmte die Neugier der Jungen und die Bereitschaft der Alten, etwas zu erzählen. 60 Jahre nach Kriegsende löst sich nun endlich ein Knoten. Zeitzeugen melden sich, reden sich ihre Geschichte vom Leib. In Zeitungen, im Fernsehen, auf Veranstaltungen. Das ist möglich geworden, weil der Mühlstein individueller Schuld und Rechtfertigung den Diskurs nicht mehr beschwert: Wer heute 75 ist, war bei der Machtübernahme der Nazis drei Jahre alt - und 15, als der Wahnsinn zu Ende ging. Natürlich steckt in der Flut von Erzählungen die Gefahr, aus dem Auge zu verlieren, von wem die Gräuel des 2. Weltkriegs und des Völkermordes ausgegangen sind. Aber es steckt auch die ganz große Chance drin, Menschen zum Erzählen zu bringen vom Elend des Krieges, von der Erbärmlichkeit der Zeiten, die sie mit erleben mussten. Denn nur wer einen konkreten Begriff vom Schrecken des Krieges hat, ist gegen jede neue Versuchung gewappnet. Wer heute dreißig und jünger ist, hat diesen Begriff nicht mehr. Er hat nicht einmal mehr, wie die erste Nachkriegs-Generation, die alten Bunker-Bauten kennengelernt, oder die Trauer um den in Russland vermissten Onkel oder die beim Bombenangriff ums Leben gekommene Patin. Krieg ist für ihn ein Medienspektakel irgendwo weit weg in Kabul oder Bagdad. Deshalb ist es gut, wenn Eltern und Großeltern berichten, wie es war, als hierzulande alles in Schutt und Asche lag. Und vielleicht, wenn sie sich erstmal heran trauen an die Erinnerung, erzählen sie ja auch, wie es war, als einst die jüdischen Mitschüler verschwanden. d.lintz@volksfreund.de

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