Nur noch etwas mehr als 48 Stunden

BERLIN. Das "Ereignis" war den Agenturen gestern eine Eilmeldung wert: Um 11.43 Uhr flimmerte die Nachricht über die Computerschirme, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder bei Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (beide SPD) einen Antrag für die am Freitag geplante Vertrauensfrage eingereicht hat.

Es ging nur um den formalen Vollzug einer längst bekannten Tatsache. Seit knapp fünf Wochen steht fest, dass der Bundestag am 1. Juli über das politische Schicksal Schröders entscheiden soll. Und damit alles seinen politischen Gang geht, muss der Kanzler laut Verfassung die Vertrauensfrage "48 Stunden" vorher beantragen. Der Regierungschef hätte sich demnach auch noch etwas Zeit lassen können. Die fast schon krankhafte Aufmerksamkeit für derlei Randnotizen ist Ausdruck der angespannten Stimmung im Berliner Regierungsviertel. Bekommt der Kanzler wie geplant das Misstrauen wirklich ausgesprochen, um den Weg für Neuwahlen frei zu machen? Und wird Bundespräsident Horst Köhler, der in den 21 Tagen danach über die Auflösung des Bundestages entscheiden muss, auch wirklich mitspielen? Nur zwei brisante Fragen, die die Gemüter bewegen. Auch eine dritte harrt noch ihrer Antwort: Wie wird Schröder seinen Antrag im Parlament begründen? Am morgigen Mittwoch will der Kanzler erstmals seine komplette Ministerriege ins Vertrauen ziehen, nachdem es anfangs hieß, dieses Privileg würde nur dem Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer zuteil. Bis dahin sucht Schröder der Nation Normalität vorzuspielen. Unmittelbar vor seinem Abflug in die USA, wo er sich wohl zum letzten Mal mit seinem ungeliebten Amtskollegen George W. Bush traf, ließ der Kanzler wissen, dass er "kein Problem" mit der vom SPD-Präsidium geplanten Reichensteuer hat. "Wenn Menschen als Verheiratete mehr als 500 000 Euro Einkommen im Jahr haben, haben sie auch eine Verpflichtung, zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes beizutragen", erklärte Schröder. Zwar beschwor er fast im gleichen Atemzug eine "konsequente Weiterführung der Reformpolitik". Doch beides passt eben nicht zusammen. "Die SPD-geführte Regierung hat den Spitzensteuersatz um elf Prozent gesenkt", rechnete CDU-Generalsekretär Volker Kauder akribisch vor (zu Helmut Kohls Zeiten lag er tatsächlich noch bei 53 Prozent). Jetzt solle der Spitzenssteuersatz für einige wenige wieder angehoben werden. Von Glaubwürdigkeit könne da keine Rede sein. "Der Kanzler muss jetzt der SPD-Linken einen Tribut zahlen, den er selbst noch vor kurzem für wirtschaftsfeindlich erklärt hat". Zweifellos fühlt sich die Parteilinke bestätigt. Durch die jüngsten programmatischen Aussagen sei "wieder so etwas wie eine sozialdemokratische Grundlinie zu erkennen", meinte der Chef des SPD-Arbeitnehmerflügels (AfA), Ottmar Schreiner gegenüber dem TV. Noch besser wäre es allerdings gewesen, den Spitzensteuersatz "generell auf 45 Prozent" zu erhöhen. Nach Ansicht Schreiners markiert das Wahlprogramm "insofern eine Abkehr von der Agenda 2010, als keine weiteren Belastungen für Rentner und Arbeitslose vorgesehen sind". Auch der Ruf nach gesetzlichen Mindestlöhnen gehe "erkennbar in die richtige Richtung". Nicht alle Genossen sind über diesen fundamentalen Kursschwenk glücklich, den Vorstand und Parteirat am 4. Juli beschließen wollen. Nach Ansicht von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement etwa ist "alles, was in Richtung Steuererhöhung geht, falsch".

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