Vom Lautsprecher zum Nachdenklichen

Berlin · Er kämpfte seit fast zwei Jahren mit einem Krebsleiden und den Folgen - nun ist Guido Westerwelle gestorben. Der ehemalige Außenminister und FDP-Chef wurde nur 54 Jahre alt. Die Bestürzung ist groß. Ein Nachruf.

Berlin. Anfang November vergangenen Jahres erlebte man einen Guido Westerwelle, wie man ihn nicht kannte. Weich, milde, selbstreflektiert, von Wichtigerem beseelt als von Macht und parteipolitischer Karriere. So präsentierte sich der frühere FDP-Chef und Außenminister nach seiner ausgestanden geglaubten Leukämie-Erkrankung wieder der Öffentlichkeit. Der Politiker von früher schien unheimlich weit weg zu sein. Westerwelle stellte sein Buch über sein Krebsleiden vor: "Zwischen zwei Leben". Damals sagte er: "Ich habe den Plan zu überleben." Etwas mehr als vier Monate danach hat er den erneuten Kampf gegen seine Erkrankung verloren. Guido Westerwelle ist am Freitag im Alter von 54 Jahren gestorben.

Angriffslustig, laut und schrill


Der Krebs habe sein Leben auf den Kopf gestellt, so der Liberale im November. "Mein Gott!", denke er inzwischen häufig. "Worüber hast du dich früher alles aufgeregt?" Er wusste also selbst: über vieles. Der Politiker Westerwelle, wie ihn Freund und Feind in Erinnerung behalten werden, war angriffslustig, ein bravouröser und geschliffener Redner, dabei gerne etwas zu laut und zu schrill. Einer, der "eine ganze Generation herausgefordert hat", wie Parteichef Christian Lindner gestern mit tränenerstickter Stimme meinte. Das stimmt. Es gab sogar Zeiten, da war die Herausforderung fast unerträglich, weil Westerwelle keine Peinlichkeit zu peinlich war.
Im Jahr 2000 zum Beispiel war er der erste Politiker, der den Big-Brother-Container besuchte. Ein handfester Aufreger in der damaligen Zeit. Für die Bundestagswahl 2002 ließ er sich dann das "Projekt 18" aufschwatzen, Westerwelle fuhr mit dem "Guido mobil" durch die Gegend und trug das Wahlziel "18 Prozent" unter seinen Schuhsohlen. Er wurde zur Lachnummer - die Partei landete bei 7,4 Prozent.
Westerwelle hatte aber stets Glück, dass es in der FDP eigentlich nie einen Besseren gab als ihn - schnell im Denken, herausfordernd, polarisierend, aber durch und durch liberal. Seine politische Karriere nahm zu Beginn der 1980er Jahre ihren Lauf. Gerne erzählte er von damals eine Anekdote. Er sei im Bonner Hofgarten mittendrin gewesen, als Hunderttausende gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstriert hätten. Flugblätter habe er verteilt. "Aber dafür", so Westerwelle stolz und breit grinsend.
An Selbstbewusstsein, an Stehauf-Mentalität fehlte es ihm nie. Er war immer ein Kämpfer. Also kämpfte sich der spätere Jurist und Anwalt auch in seiner Partei nach oben. Von 1983 bis 1988 als Chef der Jungen Liberalen, von 1994 bis 2001 als Generalsekretär. Dann, mit 39, wurde er Parteivorsitzender. Bei der Bundestagswahl 2009 holt er mit über 14 Prozent das historisch beste Ergebnis der FDP. Und Westerwelle wurde Außenminister in seiner Wunschkoalition mit Angela Merkel und ihrer Union.

Viele haben ihm, dem Wadenbeißer und Lautsprecher, den Wandel zum Diplomaten jedoch nie abgenommen - und anfangs versuchte er sogar in bewährter Manier, sich innenpolitisch einzumischen. Er sprach von "spätrömischer Dekadenz" einiger Hartz-IV-Empfänger - und leitete damit den Abstieg vom Aufstieg seiner Partei ein, der 2013 im Rauswurf aus dem Bundestag mündete.
Seinen Gegnern rief er da zwar noch zu: "Ihr kauft mir den Schneid nicht ab." Doch nach anderthalb Jahren musste Westerwelle Parteivorsitz und Vizekanzlerschaft abgeben. Zwar lief es für die FDP mit Philipp Rösler an der Spitze keinen Deut besser. Fortan widmete sich Westerwelle aber nur noch der Außenpolitik. Durchaus mit einigen Erfolgen. Zur Lage der FDP? Kein Wort mehr. Verwunden hat er den Rauswurf lange nicht.
Im Privaten war er der erste deutsche Spitzenpolitiker, der sich offen zu seiner Homosexualität bekannte. Ausgerechnet zum 50. Geburtstag von Angela Merkel 2004 präsentierte er seinen Partner, den Sportmanager Michael Mronz. Die Vorstellung seines Buches im November geriet dann auch zur großen Liebeserklärung für Mronz, mit dem er die Leidenschaft für den Pferdesport teilte.
Als Politiker versteckte Westerwelle seine Gefühle freilich meist hinter großem Pathos. Aber vor vier Monaten war er schon lange kein Politiker mehr.Extra

27. Dezember 1961: geboren in Bad Honnef bei Bonn 1980: Abitur und FDP-Beitritt, anschließend Jurastudium und Promotion 1983-1988: Vorsitz der Jungen Liberalen 1994-2001: Generalsekretär der FDP 1996-2013: Mitglied des Bundestages 2001-2011: Bundesvorsitzender der FDP 2006-2009: Fraktionsvorsitzender der FDP 2009-2013: Außenminister und bis 2011 Vizekanzler 2010: Heirat mit seinem Lebensgefährten Michael Mronz Juni 2014: Bekanntgabe der Leukämie-Erkrankung 18. März 2016: gestorben im Alter von 54 Jahren dpaExtra

Leukämie (Blutkrebs) ist eine bösartige Erkrankung der weißen Blutkörperchen (Leukozyten), die im Körper für die Infektabwehr zuständig sind. Sie entsteht im Knochenmark. Bei einer Leukämie kommt es dort zu einer explosionsartigen Vermehrung der weißen Blutkörperchen. Das ruft unter anderem einen Mangel an roten Blutkörperchen (Erythrozyten) hervor, die für den Sauerstofftransport im Blut sorgen. Erste Anzeichen einer Leukämie sind eine erhöhte Anfälligkeit für Infekte, Abgeschlagenheit und eine Neigung zu Blutergüssen. Jährlich erkranken in Deutschland mehr als 10 000 Menschen neu an Blutkrebs, darunter viele Kinder und Jugendliche. Ohne medizinische Behandlung führt eine Leukämie zum Tod. Helfen kann eine Chemo- oder Strahlentherapie. Schlägt sie nicht an, ist die Übertragung von gesunden Stammzellen die letzte Chance, das Leben eines Patienten zu retten. dpaExtra

Bundespräsident Joachim Gauck: "Mit Guido Westerwelle verliert unser Land einen leidenschaftlichen politischen Menschen, der seine verschiedenen Aufgaben, ob in seiner Partei, im Ministeramt oder zuletzt in der von ihm gegründeten Stiftung, immer mit großem persönlichem Einsatz angegangen ist. Als Vorsitzender der FDP führte er seine Partei zu großen Erfolgen. (...) Er wird uns als ein leidenschaftlicher Demokrat und Europäer in Erinnerung bleiben." Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): "Sein Tod erschüttert mich tief", sagte sie in Brüssel am Rande des EU-Gipfels. Sie habe Westerwelle als "empfindsamen und als nachdenklichen Menschen erlebt". Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD): "Wir haben heute einen Menschen verloren, der unser Land eine ganze Generation lang als Parteivorsitzender der FDP, als Oppositionsführer und dann als Außenminister geprägt hat. Guido Westerwelle war Vollblutpolitiker. Jemand, der sich nie wegduckt und auch in schwierigen Zeiten seine Überzeugungen aufrecht vertreten hat." Ex-Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP): "Er war eine große politische Begabung und ein herzensguter Mensch. Mit ihm wird unvergessen bleiben das Wahlergebnis der FDP aus dem Jahr 2009." FDP-Chef Christian Lindner bei Twitter: "Mir fehlen die Worte. Guido hat so gekämpft. Die Trauer ist groß." dpa

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