Kleine Frau, große Haltung

Wittlich · Die Stiftung Stadt Wittlich hat Herta Müller den Georg-Meistermann-Preis verliehen. Die Literaturnobelpreisträgerin stiftet die 10 000 Euro Preisgeld Flüchtlingen. In ihrer Rede und im Gespräch mit Ernest Wichner, dem Leiter des Literaturhauses Berlin, mahnt sie vor Unmenschlichkeit und Diktatur und legt Zeugnis ab von der Macht des Wortes wider das Vergessen.

Kleine Frau, große Haltung
Foto: Klaus Kimmling (m_wil )

Wittlich. Jedes Wort genau, nie leichtfertig, nicht zu viel, nicht zu groß, deutlich: Wenn Herta Müller mit ihrer gleichsam mädchenhaften, gleichsam altmodischen Stimme spricht, hallt viel nach. Ihre Sätze sind in ihrer Kargheit monströs. Das liegt an den Themen wie dem Leben unter dem rumänischen Diktator Ceausescu und der Geheimpolizei Securitate. Darüber spricht die zarte Frau in Wittlich vor fast 1400 Menschen. Alle wollen die Autorin sehen, die 2009 den Literaturnobelpreis erhalten hat und am Donnerstagabend im Wittlicher Eventum mit dem Georg-Meistermann-Preis ausgezeichnet worden ist. Dabei ist sie eine Art sperriger Künstler-Star, wie es auch Patti Smith oder Yoko Ono für manchen sind.
Und so wird es auch nicht austauschbar glamourös oberflächlich: Während des beeindruckenden Festakts fallen existenzielle Worte: Hunger, Durst, Angst, Ohnmacht, Verrat, Lager.
Und Herta Müller weiß, was sie für einen Menschen, ein Leben bedeuten können. Sie hat es erfahren und gefühlt: selbst oder bei Menschen, die ihr nahe waren. Sie hat es nicht vergessen, hat es ertragen, durchdacht, abgewogen, sich dann dazu Worte abgerungen.
Denn das Schreiben darüber hat ihr geholfen, wie sie sagt: "Ich habe so viele Menschen in der Fabrik kaputtgehen gesehen. Frauen, die unter der Dusche geweint haben und zusammengebrochen sind. Das waren schreckliche Sachen, die sich gestapelt haben. Das alles auszuhalten, dabei hat mir das Schreiben geholfen." Und die Autorin sagt auch: "Ich habe gemerkt, dass das Leben gar nicht aufgeschrieben werden will, denn dann sträubt es sich. Man muss erst alles zerstückeln und dann wieder künstlich aufbauen, dass es dem, was passiert ist, nahekommt."
Und so kommt das, was nicht vergessen werden darf, jedem nahe, der ihre Texte liest oder ihr zuhört. Ernest Wichner, Herta Müller noch aus Rumänien als Freund verbunden, Autor und Leiter des Literaturhauses Berlin, führt in Wittlich den Dialog mit der Preisträgerin. Es ist kein wirklicher Dialog: Er tippt sie leicht mit Worten an, so dass ihre Worte sich lösen.
Mit denen nimmt sie es genau. So wehrte sie sich, wenn jemand sie "freiberufliche" Autorin nannte: "Nein. Ich war nicht freiberuflich. Es war versteckt beruflich oder gefährlich beruflich. Das war eine Art von Selbstbehauptung. Ich habe gemerkt, dass Schreiben Schwerstarbeit ist." Das habe ihr einerseits inneren Halt gegeben, sie andererseits in der Diktatur in Gefahr gebracht, fast sei sie daran zerbrochen.
Ihre Freunde und später die Ausreise nach Deutschland haben sie vielleicht neben dem Schreiben gerettet: "Ich war wirklich am Ende. Ich habe Lachen mit dem Weinen verwechselt. Diese Überfälle von Erinnerungen." Die hat sie zum Teil gebannt. Auch für andere, für die sie alles aufgeschrieben hat. Über die Lager zum Beispiel, die auch ihre Mutter erlebt hat. "Sie hat mir immer so Sätze gesagt wie: Wind ist kälter als Schnee. Durst ist schwerer als Hunger. Ich dachte später, ich müsste davon schreiben." Das hat sie getan. Und so großartig, dass sie unter anderem den Literaturnobelpreis erhalten hat.
Vielleicht kann man ihre teils zutiefst beunruhigenden, verstörend poetischen Arbeiten mit einem riesenhaften Bild vergleichen, das ebenfalls ein Mahnmal gegen schlimmste Unmenschlichkeit geworden ist: das Bild "Guernica" von Pablo Picasso, das an die Zerstörung der spanischen Stadt Guernica durch den Luftangriff der deutschen Legion Condor erinnert. Der Gigant der modernen Malerei wird dazu mit Worten zitiert, die zu Herta Müller passen: "Es ist mein Wunsch, Sie daran zu erinnern, dass ich stets davon überzeugt war und noch immer davon überzeugt bin, dass ein Künstler, der mit geistigen Werten lebt und umgeht, angesichts eines Konflikts, in dem die höchsten Werte der Humanität und Zivilisation auf dem Spiel stehen, sich nicht gleichgültig verhalten kann." Diese Botschaft hat auch jeder, der auf dem Herzen nicht taub geworden ist, beim Festakt in Wittlich gehört.
Auch Laudator Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, lag das am Herzen, als er sagte: "Herta Müller entreißt die Opfer dem Vergessen, dem Verleugnet-Werden, lässt ihnen Gerechtigkeit widerfahren und gibt ihnen, so empfinde ich es, damit ihre Würde zurück." Schulz führte weiter aus: "Herta Müller selbst sagte einmal: ,Ich kann mich nicht wegschleichen und will mich nicht täuschen, sondern das ertragen, was ich sehe.' Sich nicht wegducken. Sondern sich stellen. Das erfordert ungeheure Kraft. Ungeheuren Mut." Beides habe Herta Müller in Leben und Werk aufgebracht.
Wer mehr von Herta Müller wissen will: Ernest Wichner hat zwei Wege empfohlen: das Buch "Mein Vaterland war ein Apfelkern" und die beiden CDs "Die Nacht ist aus Tinte gemacht".
Extra

Der Georg-Meistermann-Preis der Stiftung Stadt Wittlich wird seit 2006 in der Regel alle zwei Jahre verliehen. Er ist mit 10 000 Euro dotiert. Das Geld spenden die Preisträger an einen von ihnen bestimmten Zweck. Herta Müller gibt es an Flüchtlinge in Deutschland. Der Preis soll das Andenken an Künstler Georg Meistermann (1911-1990) und sein Eintreten für Demokratie und Meinungsfreiheit wachhalten. sos

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