Nicht nur hören, sondern spüren

Luxemburg · Ein Präsident, der vom Rednerpodium sein Volk mit nichtssagenden Politik-Floskeln bedenkt, und tags darauf Orchestermusik mit korrespondierenden Untertiteln: Ein glänzender Start der Luxemburger rainy days.

Luxemburg. Sage noch jemand, Neue Musik sei gealtert. Da fährt mitten in Luxemburgs Innenstadt eine Motorrad-eskortierte Limousine vor. Und während nebenan schon der Weihnachtsmarkt lockt, richtet von der Rednertribüne am Standbild von Großherzog Guillaume deux jemand im Präsidenten-Outfit warme Worte an sein Volk. Auf deutsch und damit in einer Sprache, die für ältere Luxemburger in diesem Zusammenhang in unguter Erinnerung sein dürfte.
Nein, der Start der rainy days zeigte: Mauricio Kagels szenische Aktion "Der Tribun" aus dem 1970er Jahren behält gerade in der unspektakulären Inszenierung von Franz-Josef Heumannskämper ihre Brisanz.
So reden Dikatoren


In den Politikfloskeln, die Steve Karier vom Podium verkündet, versteckt sich in dem Skurrilen das Bedrohliche, klingt mal untergründig, mal offen Gewaltrhetorik mit. So reden Diktatoren. Und die "Harmonie Municipal de Dudelange" begleitet dazu mit subtil modifizierten Marschklängen. Kagel hat eine Musik geschrieben, die nicht parodiert und nicht verfremdet, sondern militärischen Klanggesten etwas Uneigentliches und Unwirkliches mitgibt. Ein kompositorisches Glanzstück.
Glanzvoll auch der zweite Abend der rainy days, diesmal in der Philharmonie und mit dem Orchestre Philharmonique unter der präzise-ausdrucksvollen Stabführung von Peter Rundel und Untertiteln zur Musik. Sibelius, Schönberg, Satie, Liszts exzellent musizierte "Mazeppa"-Tondichtung, sogar Peter Ablingers fünfminütiges Auftragswerk "Wachstum, Massenmord" - sie zielten gleichsam auf Clemens Gnadenstätters Fluchten/Agora sonie". Der österreichische Lachenmann-Schüler hat auf der Basis einer simplen, in kurzen Erläuterungen projizierten Kriminalhandlung eine Musik geschrieben, die den Raum zum Kompositionsmedium macht. Mit einer raffinierten Instrumentation rückt Gnadenstätter die Musik dabei ganz nahe an den Besucher. Die Komposition baut eine körperliche Spannung auf - Musik, die buchstäblich unter die Haut geht. Das Orchestre Philharmonique, die Solisten Pascal Meyer, Xenia Pestova (Klavier), Teodoro Anzellotti (Akkordeon), Matthias Koole (E-Gitarre), Béatrice Duadin und Benjami Schäfer (Percussion) realisierten das bedeutende Werk mit bedrängender Intensität. mö

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