Tretminen im Wohnzimmer

Trier · Pralles, saftiges Schauspielertheater, ein Stück, das zum Lachen traurig und zum Heulen lustig ist, ein Thema, das jeden angeht: All das bietet Tracy Letts\' Tragikomödie "Eine Familie", die bei der Premiere am Sonntag im Theater Trier gefeiert wurde.

 Antreten zum gnadenlosen Mutter-Tochter-Duell: Diana Körner (links) und Kerstin Thielemann brillieren. TV-Foto: Friedemann Vetter.

Antreten zum gnadenlosen Mutter-Tochter-Duell: Diana Körner (links) und Kerstin Thielemann brillieren. TV-Foto: Friedemann Vetter.

Trier. Ach ja, wie man das kennt. Die Begrüßungsrituale bei Familientreffen, das "Mein Gott, sind die Kinder groß geworden", die verlegenen Umarmungen, die in die Hose gehenden Ansprachen, die unlustigen Pubertäts-Nervensägen, die Witze-Reißer, die Problem-Ausdiskutierer, die Hintergrund-Rauner. Fehlt nur noch die Tante, die holprige Reime Marke Eigendichtung vorträgt.
Aber das würde nicht ganz passen bei der Zusammenkunft der Familie Weston in einem Provinzstädtchen in Oklahoma. Denn Anlass ist der Suizid des Familienoberhaupts, des einst erfolgreichen Dichters und notorischen Alkoholikers Beverly (in einem Kurzauftritt: Hans-Peter Leu). Mutter Violet, selbst krebskrank und medikamentenabhängig, empfängt ihre drei (sehr unterschiedlichen) Töchter und ihre Schwester, alle samt Anhang.
Im Laufe weniger Tage brechen Verwundungen auf, werden alte Rechnungen aufgemacht, kommen Eifersucht, Betrug, enttäuschte Erwartungen an die Oberfläche - aber auch die Angst, Verantwortung zu übernehmen. Unter der dünnen Deckschicht namens "Familienzusammenhalt" lauert eine Tretmine nach der anderen. Alles wurde so lange unter den Teppich gekehrt, dass man nun darüber stolpert.
Dass Letts das erfolgreichste Theaterstück der vergangenen Jahre geschrieben hat, liegt an einigen virtuos eingesetzten Kunstgriffen. Er zitiert Erfahrungen, die jeder kennt, und treibt sie dann ins Extrem. Er jagt das Publikum durch Stimmungswechselbäder: Kaum hat man sich einen Moment an den komödiantischen Gang der Dinge gewöhnt, schlägt er einem Pointen von atemberaubendem Zynismus um die Ohren. Stellt man sich dann auf Weltschmerz und Gesellschaftskritik ein, schickt er einen unversehens auf den Broadway-Boulevard. Seine Figuren sind immer wieder für Überraschungen gut.
Die Charaktere sind höchst dankbare Aufgaben für Schauspieler - wenn man sie denn lässt. Und Regisseur Alexander May ist klug genug, sie zu lassen. Mehr noch: Er legt ihnen einen Teppich aus, auf dem sie lustvoll brillieren können. Allen voran der Mutter-Tochter-Hahnenkampf zwischen Patriarchin Diana Körner und Kerstin Thielemann als ältester Tochter Barbara, die ihrer Mutter zu ähnlich ist, um mit ihr auskommen zu können. Sie streiten sogar da, wo sie einer Meinung sind.
Da wird gefochten und getreten, triumphiert und erniedrigt - aber die Schauspielkunst der beiden Gäste sorgt dafür, dass die Figuren nie zu Zerrbildern oder Hassobjekten werden. Immer schwingt Verzweiflung mit - und Melancholie. Familie ist Schicksal, alle sind Gefangene, im Guten wie im Schlechten. Jede Figur ist ein gründlich ausgeloteter, spannender Charakter, die Frauen voran: Barbara Ullmann als Ivy, die stets um ihr Glück betrogene Tochter im Schatten, "Nesthäkchen" Karen (Vanessa Daun), die sich vor der Familienhölle in die Oberflächlichkeit geflüchtet hat, Enkelin Jean, von Antje-Kristina Härle punktgenau als punkiger Rotzlöffel gespielt, Violets Schwester Mattie Fae, hinter deren Verbitterung sich düstere Familiengeheimnisse verbergen, die ans Licht kommen.
Die angeheirateten Männer sind bei Letts fürs Karikaturistische zuständig, vom Liberal-Intellektuellen Michael Ophelders über den notgeilen Klaus-Michael Nix und den salbungsvollen Peter Singer bis zum sympathisch-tumben Jan Brunhoeber. Alle haben ihre starken Szenen.
Alexander Mays Regie ist äußerst präzise, arrangiert sorgfältig Gesten, Gänge, Bewegungen, setzt aber auch richtige Knalleffekte. Mit einfachen Mitteln entsteht Atmosphäre: Ry Cooders elegische Steel-Guitar-Filmmusik aus "Paris-Texas" sorgt für drückende Schwüle, erhebliche Textkürzungen erhöhen die Dichte, clevere Beleuchtung kreiert Spiel-Räume. Die Bühne von Susanne Weibler bietet markante Symbolik: Erst vollgestopft mit Mobiliar aus der Möbelfundgrube, leert sie sich synchron zum Verlust der familiären Illusionen.
May pfropft dem Stück kein Konzept auf, er spielt es aber auch nicht boulevardesk herunter. Alles wirkt durchdacht, selbst die Besetzung des indianischen Dienstmädchens mit einem Mann (leise beeindruckend: Helge Gutbrod). Die einzige Gestalt, die Ordnung und Menschenverstand in das familiäre Chaos bringt, wird so zur verfremdeten, fast irrealen Figur.
Am Ende Jubel, minutenlange Klatschmärsche, aber auch Gesprächsbedarf. Genau so muss Theater sein. Nicht verpassen.

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