Sehnsuchtsorte im Hunsrück und am Amazonas: Regisseur Edgar Reitz über „Die andere Heimat“

Morbach · Der neue Film von Edgar Reitz „Die andere Heimat“ läuft in den Kinos in der Region. Am 5. November wird im Fernsehen der Dokumentarfilm „Making of Heimat“ ausgestrahlt, der zeigt, wie der Streifen entstanden ist. Mit Ilse Rosenschild und Christoph Strouvelle sprach der Regisseur aus dem Hunsrück, der am 1. November 81 Jahre alt wird, über den Film, späte Anerkennung und seine Pläne für die Zukunft.

Ihr Film "Die andere Heimat" ist in diesen Tagen auch in Frankreich gestartet. Es handelt es sich ja um eine deutsch-französische Co-Produktion. Was glauben Sie, schätzen die Franzosen an Die andere Heimat?
Reitz: In Frankreich ist der Film am 23. Oktober in 160 Kinos angelaufen. die Franzosen interessieren sich für andere Aspekte, als die Deutschen. Sie fragen nach den Kamerafahrten, nach dem Licht, nach der Schönheit der Bildschnitte. Es sind die künstlerischen Qualitäten, die einen Film exportfähig machen. Ohne diese Qualität würde man außerhalb des Hunsrücks nicht von diesem Film sprechen. Und ich sage eins: Wenn er nur im Hunsrück zu sehen wäre, würde er auch im Hunsrück nicht gesehen. Die Nachricht, dass die Heimat-Trilogie in der ganzen Welt beachtet und verehrt wird, führte Anfang der 1980er Jahre dazu, dass auch der Hunsrücker sich damit identifizierte und sie gerne sah. Nach mehr als 50 Jahren Filmarbeit ist gerade dies mir immer wichtiger geworden, dass man die Augen öffnen lernt für die künstlerische Seite eines Films.

Sie arbeiten länger als andere Regisseure an ihren Projekten. In diesem Fall vier Jahre. Die andere Heimat ist jetzt abgeschlossen. Was ist das für ein Gefühl?
Reitz: Das ist eine Frage, die Sportlern immer gestellt wird, in dem Moment, wenn sie auf dem Treppchen stehen. Ich denke dass es Wochen braucht, bis ich wirklich begreife, was ich zur Zeit erlebe. Die Situation ist mit der gewohnten Arbeit am Set nicht vergleichbar. Sie widerspricht auch der Spruchweisheit, dass der Prophet im eigenen Land nichts gelte. Ich erlebe hier im Hunsrück ein hohes Maß an Anerkennung - wenn auch im 81. Lebensjahr, aber immerhin.

Können Sie denn loslassen?
Reitz: Ein Film ist für mich wie ein Kind. Und Eltern haben bekanntermaßen Angst, wenn ihr Kind zum ersten Mal allein in die Welt herausgeht. Man denkt, man muss noch immer seine schützende Hand darüber halten, selbst wenn es längst mündig ist und alleine laufen kann. Ich muss einsehen, dass der Film seinen Weg nun alleine macht. Wenn die Produktion abgeschlossen ist, kann ich beim besten Willen nichts mehr dran ändern. In den Augen eines Künstlers gibt immer ein paar Stellen, von denen er meint, dass er sie verbessern könnte. Ich verrate aber nicht, welche Stellen das sind.

Die andere Heimat wirkt authentisch, obwohl die Geschichte vor 150 Jahren spielt. Wie kann das sein?
Reitz: Meine Filme sind nicht nur Verarbeitung von Erinnerung und Recherchen. Die persönliche Erinnerung ist eigentlich eher nur ein Maßstab. Man vergleicht die Dinge, die man erfindet mit dem, was man aus eigener Erfahrung weiß. Auf diese Weise hat man eine Kontrollinstanz in sich.

Was heißt das?
Reitz: Wenn ich nach meiner Methode vorgehe, weiß ich immer, was stimmt und was nicht stimmt, was wahrscheinlich ist, was denkbar ist und was nicht denkbar ist. Selbst dann, wenn eine Geschichte komplett erfunden ist, ist es mir immer sehr wichtig gewesen, dass die Phantasiewelt, die ich in jedem Film entwickele, nicht im luftleeren Raum handelt. Wenn es nur um Tatsachen ginge, müsste ich keine Filme machen. Es würde reichen, dass es Leute gibt, die Geschichts-Wissenschaft betreiben, Dokumente ammeln, Museen einrichten. Auch diese Leute setzen uns in die Lage, geschichtliche Ereignisse der Vergessenheit zu entreißen. Aber ein Film ist ein künstlerisches Statement. Eine poetische Parallelwelt, in der eigene Gesetze herrschen. Mein Ideal ist ein Film, der dem Leben zum Verwechseln ähnlich ist, der aber dennoch eine Phantasiewelt aufmacht, in der die größere Freiheit herrscht.

Das neue Werk spielt erneut im Hunsrück. Warum?
Reitz: Das ganze Schabbach (Ort der Handlung der Heimat-Trilogie und Die andere Heimat, Anmerkung der Redaktion) ist eine Erfindung. Einen Ort namens Schabbach hat es nie gegeben. Es ist ein Ort der Sehnsucht, wenn man so will. Es gibt in dem neuen Film eine Szene, eine Art Schlüsselszene: Alexander von Humboldt kommt in den Hunsrück, um Jakob zu besuchen. Da begegnet sozusagen ein Stück Weltgeschichte des Geisteslebens einer erfundenen Figur. Das Ganze wird dargestellt von Werner Herzog und mir, also zwei befreundeten Cineasten. Herzog ist ein Filmemacher, der seinen Sehnsuchtsort immer in den weitesten Weiten der Welt gesucht hat. Im Amazonas, auf den höchsten Bergen, in den Salzwüsten, am Nordpol und am Südpol. Er hat ihn ebenso wenig gefunden, wie ich in Schabbach. Der von Herzog dargestellte Forscher Alexander von Humboldt tritt im Film auf und fragt mich an einem Feldrand: Was ist das für ein Ort? Und ich sage: Das ist Schabbach. Also, Werner Herzog kommt auf seiner Suche in meinem Sehnsuchtsort Schabbach an. Das ist ein verrücktes Gedankenspiel.

Die Schauspieler müssen Hunsrücker Platt sprechen, ein Feld mit einer alten Roggensorte wird eigens ausgesät, damit das Feld aussieht wie früher, ein ganzes Dorf - Gehlweiler - wird in das Jahr 1840 versetzt und komplett umgebaut. Warum diese Akribie?
Reitz: Wenn ich die Welt, die ich beschreiben wollte, im Hunsrück fertig vorgefunden hätte, wäre die ganze Plackerei nicht notwendig gewesen. Wenn es ein geeignetes Dorf irgendwo gegeben hätte, das genau so erhalten ist, wie es im 19. Jahrhundert war, hätten wir natürlich da gedreht und viel Geld gespart. Natürlich gibt es so etwas aber nicht. Wir mussten das ganze Schabbach des 19. Jahrhunderts bauen. Da stellt sich die Frage, wo fängt man an und wo hört man auf. Man fängt vielleicht mit den Fassaden an. Aber dann merkt man schon an der Haustür, jetzt muss es aber auch weitergehen. Dann geht man hinein und setzt sich an den Tisch. Und dann fragt man weiter, was kommt auf den Tisch? Was sehen wir, wenn wir uns umblicken oder den Tagesablauf einer Familie inszenieren? Und so bohrt man sich immer tiefer hinein in diese Dinge. Und am Ende ... Es gibt aber gar kein Ende. So genau wie das Leben selbst kann man ja letztlich beim Erfinden nicht sein. Aber: In dem Moment, wo ich es besser weiß, muss ich es auch besser machen. Das ist mein Ethos.

Woher kommt das?
Reitz: Dafür bin ich vielleicht zu sehr Handwerkerkind. Die Pflicht, das Äußerste von mir zu verlangen, ist etwas, das ich von meinem Vater gelernt habe. Ein Uhrmacher hat früher, wenn er eine Uhr in Reparatur hatte oder ein Ersatzteil angefertigt hat, in dem Uhrwerk ein Geheimzeichen hinterlassen. Jeder Uhrmacher hatte sein eigenes Zeichen. Es wurde mit einem Stichel an verborgener Stelle in das Innere des Uhrwerks graviert. Damit sichert man sich einerseits ab. Wenn einer mit einer Reklamation kommt, dann kann er nicht mit dem Pfusch eines anderen daherkommen. Aber die Handwerkerehre verlangt noch mehr. Mein Vater hat oft gesagt: Der nächste, der die Uhr in die Hand und auseinander nimmt, sieht, was ich gemacht habe. Der einzige Mensch auf der Welt, der versteht, wie gut ich gearbeitet habe, ist der andere Uhrmacher. Ich habe oft erlebt, dass der Vater eine Uhr eines Kollegen öffnete, das Werk inspizierte und sagte: Alle Achtung: Gute Arbeit! Damit zollte er dem Kollegen seine Anerkennung. Diese Achtung sagt mir viel. Wenn ich heute einen Film mache, denke ich natürlich auch an meine Kollegen in der Welt und möchte nicht, dass einer von ihnen sagt: Hier hat er geschlampt. Oder hier hat er es sich zu leicht gemacht.

Die Authentizität wird auch vom Publikum geschätzt. Wie ist das für Sie, wenn die Menschen Fiktion und Wirklichkeit verwechseln, zum Beispiel gesagt wird, Gehlweiler ist Schabbach.
Reitz: Schön daran ist die Identifikation, das freut mich, dass die Menschen so mitgehen. Aber wenn sie Leben und Kunst miteinander verwechseln, dann entsteht ein schiefes Bild. Die eigentliche künstlerische Arbeit, die darin besteht, etwas zu erfinden und mit Leben zu füllen, wird dabei gründlich unterschätzt. Hinter einem guten Film steckt ein riesiger Apparat, über hundert Menschen, die ihr ganzes Herzblut, professionelles Können und Wissen in das Projekt gesteckt haben. Das Publikum muss das nicht wissen, aber es wäre auch falsch, zu meinen, die Filmleute wären einfach nur an Schauplätze gezogen, als wäre dort etwas zu erbeuten gewesen. Die professionelle Arbeitsleistung gerät leicht aus dem Blick. Ich möchte dafür sorgen, dass sich die Hunsrücker im Morbacher Café Heimat auch mit den künstlerischen Aspekten des Filmemachens vertraut machen können.

Woran messen Sie persönlich den Erfolg?
Reitz: Bei einigen der führenden Zeitungen gibt es die wirklich wortgewaltigen guten Schreiber. Sie fassen in Worte, was die Zuschauer fühlen, oder fühlen könnten. Natürlich bin ich auch glücklich, wenn Freunde, Künstler und kluge Leute kommen und meine Arbeit loben. Erfolg ist für mich immer etwas Qualitatives: Selbst wenn die Menschen aus dem Film kommen und nicht ausdrücken können, was sie wirklich bewegt hat, ist mir ihr ihr Ausdruck wichtig. Ihre leuchtenden Augen rühren mich. Es ist nicht jedem Menschen gegeben, das in Worte zu fassen, was er auf der Leinwand gesehen hat. Manche von ihnen nehmen am nächsten Tag die Zeitung in die Hand. Und erst dann rufen sie mich an. Und dann zitieren sie aus den guten oder schlechten Kritiken zwei, drei Sätze und sagen, das ist mir aus dem Herzen gesprochen, oder das hat mich geärgert. Die Menschen zu verzaubern, das ist für mich das höchste Ziel.

Und wenn die positive Kritik ausbliebe?
Reitz: Ich bin auch in dem Punkt ein Handwerkerkind. Jeder Handwerker weiß, ob er seine Arbeit gut gemacht hat. Er weiß es besser, als jeder Kritiker. Da kann mich keiner beeindrucken wenn er sagt, das sei ein schlechter Film. Wenn er in meinen Augen gelungen ist, ist er gut. Wenn er Schwächen hat, weiß ich es früher als jeder andere. Nun ist eine Kritik in den Medien aber mehr als nur eine Bewertung oder Interpretation. Sie kann ein tödlicher Schlag gegen den Film sein. Auch diese böse Seite des blindwütigen Kritikerwesens habe ich im Laufe meines Berufslebens mehr als einmal schmerzlich erfahren müssen.

Die andere Heimat ist ein Familienprojekt. Ihr Sohn Christian hat es produziert. Ihre Frau Salome Kammer war Regieassistentin. Und ein Enkel war auch mit von der Partie… Hat das Familienunternehmen funktioniert?
Reitz: Ja. Christian war zunächst Kameramann, auch bei meinen früheren Filmen. Er ist heute mein Produzent. Er hat diese schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe hervorragend gemeistert. Ich glaube, dass er damit einen Weg betreten hat, für den er wirklich talentiert ist. Und Mathias, Christians Sohn, studiert Theaterwissenschaft. Er war technischer Assistent für die digitalen Effekte und vieles mehr. Mathias bewegt sich auch auf unseren Spuren. Er ist noch jung und soll frei herausfinden, wohin ihn das Leben führen will. Meine Frau Salome Kammer ist die wichtigste aller meiner Mitstreiter. In den 13 Filmen der Zweiten Heimat, in den 6 Filmen der Dritten Heimat, war sie meine Hauptdarstellerin, meine musikalische und künstlerische Beraterin. Als Coregisseurin hat sei bei der Anderen Heimat große Verdienste bei der Schauspielerführung, bei der Besetzung, bei allen künstlerischen und musikalischen Fragen, dem Schnitt und den Drehbucharbeiten erworben. Salome war immer meine erste Ansprechpartnerin. Durch ihren Rat habe ich meine Sicherheit gewonnen, ganz abgesehen davon, dass ich ohne ihre Assistenz am Set manchen Strapazen nicht gewachsen gewesen wäre.

Auch der neue Film dauert wider alle unsere Sehgewohnheiten vier Stunden. Warum gehen sie davon aus, dass es möglich ist, Menschen so lange zu fesseln.
Reitz: Wenn der Mensch glücklich ist, spielt die Zeit keine Rolle. Lieber vier Stunden glücklich als zwei Stunden vergeudete Zeit. Die Länge des Films war für mich nie eine Frage. Es ging mir immer darum, in jedem Augenblick das zu erzählen und in eine gültige Form zu bringen, was ein inneres Glück erzeugen kann. Schon alleine durch die Schönheit der Bilder. Wenn zum Beispiel im Dorf viele kleine Kinder sterben und zu Grabe getragen werden, dann ist das eine erschütternde Szene, von der man nicht sagen kann, dass sie den Zuschauer glücklich machen sollte. Aber die Form, in der das inszeniert ist und die Bilder, die dabei entstehen, erzeugen eine Schönheit und Anteilnahme, die einen sensiblen Menschen auch trösten können. Man ist aufgehoben in der Schönheit der Bilder. Ich glaube, so ist es auch möglich, vier Stunden glückliche Zuschauer zu haben. Deshalb prallen die Fragen nach der Längenkonvention an mir ab. Wie lang ein Spielfilm im Kino sein darf, das entscheidet nur der Film selbst.

Ist das Längenproblem nicht eine sehr deutsche Debatte?
Reitz: Mit Heimat habe ich bereits 1984 das Genre des Erzählfernsehens eingeführt und habe immer dafür gekämpft. Aber damals war ja niemand fähig, den Gedanken ernsthaft aufzugreifen. Heute, wo die heimatartigen TV-Erzählungen reihenweise aus Amerika kommen, da finden plötzlich alle die epische Erzählform toll. Das Eigene ist den Leuten oft unheimlich, das Fremde ist interessant.

Sie sind seit vielen Jahren weg aus dem Hunsrück. Und sie entscheiden sich bei Themen und Drehorten immer wieder für diese Region. Warum?
Reitz: Für das Thema Heimat muss man einen besonders distanzierten Blick entwickeln. Es nützt nichts, in die persönlichen Probleme der Herkunft und der Familie verwickelt zu sein. Wenn man zu nah an den Dingen ist, sieht man vieles nicht. Für mich war es sehr fruchtbar, dass ich mich schon in früher Jugend vom Hunsrück entfernte. Erst aus der verfremdenden Blickrichtung aus der Distanz, konnte ich die Quellen erkennen, die in der Heimat entspringen. Dass ich in einer vollkommen anderen Welt lebe und auch Maßstäbe aus völlig anderen Tätigkeiten in mir trage, führt dazu, dass ich viele Zusammenhänge in der Heimat benennen und entschlüsseln kann. Der Maler Ströher aus Irmenach im Hunsrück hatte ja auch so eine Biografie wie ich. Er lebte in Paris, Berlin und Spanien. Seine eigentliche künstlerische Form hat er gefunden, als er in seine Heimat zurückkehrte, mit einem völlig fremden Blick, geschult an exotischen Landschaften. Er hat einmal geschrieben: Er musste diese große Runde durch die Welt machen, um seine Heimat beschreiben zu können.

Die Trilogie ist ja mehr oder weniger zufällig zu ihrem Namen gekommen. Bernd Eichinger hatte damals darauf bestanden. Aber sie haben entschieden, weiter unter diesem Titel zu drehen. Wie würden Sie heute Heimat definieren, und was bedeutet der Begriff für sie?
Reitz: Für mich ist Heimat ein Filmtitel oder besser ein Dachbegriff über vielen Filmen. Heimat ist ein großes schützendes Dach, und unter diesem Dach versammeln sich tausend Geschichten, die man sich erzählt, die ich erzähle. Und durch dieses ewige Weitererzählen entsteht das, was ich als Heimat empfinde. Heimat ist ein unerschöpflicher Erzählstoff. Ich könnte mir vorstellen, dass es umgekehrt auch so funktioniert: Menschen, die in meinen Filmen oder Büchern diese vielen Geschichten kennenlernen, erleben, dass sie unter diesem schützenden Dach angekommen sind, wie unter einer warmen Decke. Der neue Film hätte nicht Heimat heißen müssen. Der ursprüngliche Name war einfach Chronik einer Sehnsucht. Aber dann haben wir "Die andere Heimat" darüber geschrieben, damit der Film unter demselben Dach erscheinen konnte.

Was Heimat für die Menschen im 19. Jahrhundert bedeutet hat, das kann man in ihrem Film erspüren. Aber was kann Heimat heute bedeuten?
Reitz: Man kann Heimat nicht besitzen. Wenn man das versucht, führt es dazu, dass man andere ausgrenzt, dass man sich selbst auch abkoppelt von der übrigen Welt. Das wäre schlimmer noch als die Selbsttäuschung in einer Gartenlauben-Illusion früherer Zeiten. Heimat als Besitz, das ist ein furchtbarer Irrtum. Man müsste sich fragen: Ist der Garten des Nachbarn noch meine Heimat? So kann es nicht sein. Heimat ist eine Gestaltungsaufgabe. Dort, wo wir unsere Phantasie und unsere mitmenschlichen Qualitäten entwickeln, entsteht Heimat. Heimat schafft man täglich, erzeugt man, zerstört man aber auch. Es gibt auch ein Heimat-Ethos. Heimat zu schaffen, ist eine kreative Aufgabe. Heimat durch Profitgier zu zerstören, ist Barbarei.

Es ist interessant, die Idee zum Film entstand ja bereits vor einigen Jahren. Aber derzeit hat das Thema eine Aktualität wie nie zuvor.
Reitz: Ja durch die Migrationsbewegungen rund um den Globus. Denken Sie an die jüngsten Tragödien bei Lampedusa. Bedenken Sie, wie viele Hunsrücker Auswanderer auf den Schiffen ersoffen sind. Bis zu 20 Prozent der Auswanderer kamen nicht lebendig in den Bestimmungshäfen an. Auf den Schiffen sind Seuchen ausgebrochen, Menschen sind verhungert, oder viele Schiffe sind gleich untergegangen.

Filmemachen ist eine enorme Strapaze. Und sie feiern in diesen Tagen Ihren 81. Geburtstag. Was haben Sie für Pläne für die Zukunft?
Reitz: Manche haben geschrieben: Jetzt hat das Alterswerk begonnen. Das höre ich gar nicht gern, denn es gibt immer in meiner Schublade noch fünf, sechs Projekte, die seit Jahren auf ihre Chance warten. Meine Projekte entstehen quasi nebenher. Ich schreibe einen Entwurf besonders gern mitten im Trubel einer Produktion. Im Vollstress hat man die besten Ideen. Deswegen war ich noch nie in Verlegenheit um ein neues Thema. Ich muss nur in die Schublade gucken und sehen, was ist noch aktuell, was überholt. Nicht alles, was ich noch machen möchte, spielt im Hunsrück.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führten Ilse Rosenschild und Christoph Strouvelle.
Filmdaten

Titel: Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht
Produktionsländer: Deutschland, Frankreich
Regie: Edgar Reitz
Produzent: Christian Reitz
Drehbuch: Edgar Reitz, Gert Heidenreich
Kamera: Gernot Roll
Drehtage: 69, 17. April bis 10. August 2012
Drehorte: Gehlweiler, Schlierschied, Morbach, Herrstein, Bernkastel-Kues, Wolf und Retzstadt (Franken)
Spieldauer: 225 Minuten
Darsteller: Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger Kriese, und andere

Quelle: Edgar Reitz

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