Im Stich gelassen

TRIER. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt. 70 Prozent von ihnen werden zu Hause betreut. Das ist von der Politik auch so gewollt. Doch oft wird es den pflegenden Angehörigen durch starre Vorschriften sehr schwer gemacht. Ein Beispiel aus Trier.

Ihr Blick geht starr an die Decke. Geht man auf sie zu, dreht sie leicht den Kopf, reagiert mit den Augen. Katharina Blaesius ist seit fast zwei Jahren ans Bett gefesselt, kann nicht mehr reden, ist bewegungsunfähig. Zwei Schlaganfälle haben aus der 90-Jährigen einen Schwerst-Pflegefall gemacht. Seitdem lebt sie in der Wohnung ihrer Tochter. Im ehemaligen Esszimmer pflegt Heidemarie Klaß ihre kranke Mutter. Zusammen mit ihrem Mann hievt sie ab und zu ihre Mutter aus dem Krankenbett, trägt sie auf den Balkon. Die Tochter ist überzeugt, dass sie den Blick über die Häuser auf den Markusberg genießt. "Sonst hat sie doch nichts mehr in ihrem Leben", sagt die Mittsechzigerin und beginnt zu weinen. Einmal am Tag hat sie Unterstützung durch eine Pflegerin vom Roten Kreuz. So oft es geht versucht Heidemarie Klaß raus zu kommen. "Und wenn es nur für eine Stunde in die Stadt ist." Oder sie fährt mit ihrem Ehemann in ihren Garten in einem Stadtteil. Heidemarie Klaß ist erschöpft, am Ende ihrer Kräfte. Sie fühlt sich im Stich gelassen. "Immer wieder ist die Rede davon, dass man die häusliche Pflege unterstützt. Doch ich bekomme nur Steine in den Weg gelegt." Gemeint ist die Krankenkasse ihrer Mutter, die BKK. Die 90-Jährige kann nicht mehr richtig schlucken. Ihr Essen muss püriert werden, Löffel für Löffel flößt ihr die Tochter die Speisen ein. Eine Magensonde lehnt die Seniorin ab. Das hat sie in einer Patientenverfügung festgehalten. Was mit dem Essen mit größtem Aufwand noch geht, funktioniert nicht mehr bei Flüssigkeiten. Ihre Hausärztin hält eine Infusion für "unabdingbar" und "lebenswichtig", ansonsten drohe eine Austrocknung. Doch die Kasse stellt sich quer: Die Infusionstherapie sei keine Leistung der häuslichen Krankenpflege. Nur für eine bestimmte Zeit könnten die Kosten dafür übernommen werden, sagt Willi Glasner, Leiter der BKK in Trier. "Menschenunwürdig" nennt Heidemarie Klaß das Verhalten der Kasse. Sie bezahlt daher die Kosten für die teurere Therapie selbst. "Das kann es doch einfach nicht sein. Damit raubt man meiner Mutter einen Teil ihrer sowieso schon geringen Lebensqualität." "Müssen uns an die Rechtslage halten"

Die Tochter ist überfordert, die Infusionen kann sie ihrer Mutter nicht selbst anlegen, muss warten, bis die Pflegerin da ist. Wie ein Hohn klingt die offizielle Ablehnung der Kasse: Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege bestehe nur, falls eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann. Mit der gleichen Begründung lehnt sie auch eine Blasenspülung bei der 90-Jährigen ab. Folge: Weil der Dauerkatheder häufig verstopft ist, muss die alte Frau immer wieder ins Krankenhaus gebracht werden. Die "außerordentliche Belastung" der Familie sei ihm sehr wohl bewusst, sagt BKK-Leiter Glasner. Aber: "Wir können nicht anders verfahren. Wir müssen uns an die Rechtslage halten." Immer wieder hören pflegende Angehörige diesen Satz, nachdem der Medizinische Dienst der Krankenkassen ein entsprechendes Gutachten erstellt hat. Nicht alle wehren sich, wie Heidemarie Klass. Rund 70 Prozent aller Pflegebedürftigen werden in Rheinland-Pfalz zu Hause gepflegt. "Familien leisten also einen unverzichtbar hohen Anteil an der Pflege und Betreuung ihrer älteren Angehörigen", sagt Sozialministerin Malu Dreyer. Eine wichtige Aufgabe der Politik sei es, die Bereitschaft und die Fähigkeit von Familien, qualifiziert und menschlich zu pflegen, zu unterstützen und zu stärken. Für Heidemarie Klaß klingt das wie ein Hohn.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort