KOLUMNE

Alle Jahre kommt er, unweigerlich, ohne dass ich mich ihm entziehen könnte: Der Muttertag! Schon Wochen vorher stimmen rosarote Werbeseiten auf dieses große Ereignis ein. Sie erinnern meine Lieben: "Oh je, wir müssen Dir ja was schenken!

" und liefern passende Tipps, vom Staubfänger bis zum Staubsauger. Mich aber versetzen sie, mit einer aufgefrischten Version von Mutterbild und zeitgemäßer Muttertagsidylle, in einen Traum: Auf frisch enthornten Füßen, im rosa Spitzennachthemd, unter dem ich natürlich edle Dessous trage (der Vater will ja auch was davon haben) husche ich an den Frühstückstisch. Dort verzieht sich meine mit Enzymen überarbeitete Gesichtshaut zu einem strahlenden Lächeln. Das fällt mir schon deshalb leicht, weil die Wildrosenöl-Aromamassage vom Vortag noch nachwirkt. Doch Grund meines Lächelns ist ein mintgrüner Marzipankuchen mit roten Zuckerherzchen und der Aufschrift: "Für Mutti!", überreicht von meinen ebenfalls strahlenden, duftenden Kindern. Dann genieße ich an rosenumkränztem Platz Kirschpralinen, streife einen Zirkonia-Ring meines Gatten über den künstlerisch gestalteten Fingernagel und lausche dabei einem Gedichtvortrag: "Liebe Mama, Du bist die Beste, denn du futterst immer unsere Reste!" Aus der Traum! Da hat sie mich wieder, die schnöde Wirklichkeit, denn der Rettungsring um meine Hüften spricht eine klare Sprache! Und erinnert mich an ganz und gar nicht idyllische Pflichten: Was koche ich denn bloß? 364 Tage immer wieder diese Frage, dazu rund um die Uhr Dienstleistungs-Einsatz. Und dann dieser Muttertag, der mich einmal im Jahr entschädigen soll, damit ich brav weitermache! Grollend beschließe ich, das Datum einfach zu verschlafen. Am Morgen jedoch kriechen mir Kaffee- und Brötchenduft in die Nase, noch im Halbschlaf kneten kleine Finger meinen verspannten Rücken und es flötet in mein Ohr: "Mama, das Frühstück ist fertig." Auf verhornten Füßen, ungekämmt und im Pyjama schlurfe ich zum Tisch. Ein Wiesenblumenstrauß wird in meine rauhen Hände gedrückt, meine Kinder grinsen sich an, nicken sich zu und sagen: "Piep, piep, piep, wir haben Dich lieb!" Gerührt nehme ich sie in die Arme und denke: "Piep, Piep, Piep, ist doch schön, dass es ihn gibt!" Anke Emmerling In unserer Kolumne "Familienbande" glossieren wechselnde Autoren den familiären Alltag.

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