Ende einer Dienstfahrt

Auf dem Meer kämpfen die Besatzungen von Hunderten hochmoderner Segelboote um jede Sekunde. Im Mittelpunkt der Travemünder Woche steht aber auch immer ein Schiff, das aus der Zeit gefallen scheint. Die "Passat" fährt schon lange nicht mehr zur See, aber sie erfüllt andere Aufgaben. Besuch an Bord eines maritimen Wahrzeichens.

Travemünde. Die Frage wurde tatsächlich gestellt, wenngleich nur ein einziges Mal in den ganzen Jahren: Was denn die Passat mit dem gleichnamigen Modell des Autoherstellers Volkswagen zu tun habe, wollte ein Besucher wissen. Walter Dühring (74) schüttelt den Kopf, wenn er daran zurückdenkt. Seit 13 Jahren führt er Besuchergruppen über das Deck des viermastigen Segelschiffs mit der wechselvollen Geschichte. "Es gibt drei Sorten von Besuchern" hat er inzwischen herausgefunden, "die belesenen, die spontanen und diejenigen, die ihr Unwissen gerne bestätigt haben wollen", sagt er.

Seit 50 Jahren liegt die Passat nun schon im Hafen von Travemünde, am Priwall, einer kargen Halbinsel gegenüber der lebendigen Altstadt mit ihren Eisdielen und den touristischen Restaurants. Eine kleine Fähre bringt die Besucher alle paar Minuten ans andere Ufer, manchmal mehr als 1000 an einem Tag.

Im nächsten Frühjahr wird die "Passat" 100 Jahre alt. Dühring kennt das Schiff noch, als es unter vollen Segeln den Atlantik durchkreuzte. Von 1954 bis 1955 arbeitete er als Schiffszimmermann an Bord auf der Reise von Travemünde nach Buenos Aires und zurück. Ganze 54 Tage dauerte die Tour, Dühring hat in jener Zeit die Position des Schiffes an jedem Tag in eine Karte eingetragen. Sie hängt heute im Laderaum, neben historischen Fotografien, nautischen Instrumenten und einem alten Rettungsring.

Die "Passat" ist in den fünf Dekaden ein Wahrzeichen des Hafens geworden, genauso wie der alte Leuchtturm aus dem 16. Jahrhundert, der ihr genau gegenübersteht. Und die Travemünder sind stolz auf ihr eigenes Stück Seefahrtsgeschichte. Immerhin ist die "Passat" das letzte erhaltene mit Fracht beladene Segelschulschiff, das Kap Hoorn umrundete.

Im März 1911 wurde der Kiel der "Passat" in der Hamburger Traditionswerft "Blohm und Voss" gelegt. Die Hamburger Reederei F. Laeisz bezahlte damals 680 000 Mark für das Schiff. Der Viermaster wurde in den ersten Jahren vor allem eingesetzt, um Salpeter von Südamerika nach Europa zu transportieren.

Die "Passat" gehörte zu den bekannten "Flying P-Linern", einer Flotte schneller Segelschiffe im Besitz der Reederei Laeisz. Ihre Namen beginnen alle mit dem Buchstaben P, diese Tradition hat die Reederei bis heute beibehalten.

Das bekannteste Schiff dieser Reihe ist die "Pamir", nicht zuletzt wegen ihres tragischen Schicksals. In einem Sturm auf dem Atlantik bekam sie erst Schlagseite und kenterte schließlich, von den insgesamt 86 Besatzungsmitgliedern überlebten nur sechs. Wenig später geriet auch die "Passat", die dieselbe Route fuhr, in einen Sturm. Auch sie bekam Schlagseite, konnte aber einen Hafen anlaufen. "Viele denken, die Pamir sei das Schwesterschiff der Passat, doch das stimmt nicht. Die Schiffe sind allenfalls typgleich", sagt Dühring. Wieder so ein Fehler, den die Leute machen - aber ungleich verzeihlicher als der Verweis auf den Volkswagen. Das echte Schwesterschiff der "Passat" heißt "Peking" und liegt heute am New Yorker East River am Kai, unweit einer Trasse der Stadtautobahn und keinen Kilometer entfernt von der Stelle, an der einst das "World Trade Center" stand. Wie die "Passat", so ist auch die "Peking" zum Museumsschiff geworden.

Sogar zwei Kollisionen im Ärmelkanal überstand die "Passat" ohne größere Blessuren. Die Beulen in der metallenen Außenhülle sind längst verschwunden. Nicht Wind und Wellen, sondern die Wirtschaftskrise begründete das vorzeitige Ende der Viermastbark: In den frühen 1930er Jahren verkaufte die Reederei Laeisz fast alle ihre Segler, und mit dem Ende der "Flying P-Liner" fiel die "Passat" an einen finnischen Reeder, fuhr von dort aus noch ein paar Jahre über die Ozeane und endete im Zweiten Weltkrieg als Kornspeicher im Hafen von Stockholm. Zwischenzeitlich an die britische Regierung vermietet, sollten sowohl die "Pamir" als auch die "Passat" 1951 in Antwerpen abgewrackt werden. Doch dazu kam es nicht: Ein deutscher Reeder kaufte die Schiffe, ließ sie überholen und als Segelschulschiffe umbauen. Doch die Reederei ging pleite, eine eigens gegründete Stiftung übernahm die beiden Schiffe bis zur Havarie der "Pamir" 1957. Auch die "Passat" wurde wenig später außer Dienst gestellt - die Konkurrenz der Dampfschifffahrt machte den Seglern ihr Terrain streitig. Zwei Jahre später kaufte die Hansestadt Lübeck die "Passat" für 315 000 D-Mark, seit dem Frühjahr 1960 liegt sie als Museumsschiff im Travemünder Hafen.

Auch Klaus Grope (72) war früher Matrose an Bord und führt heute Besucher über das Schiff. "Ich kam gerade frisch von der Mosesfabrik, so wurden die Schiffsjungenschulen genannt. Es war mein erstes Schiff, meine erste Auslandsreise", erinnert sich Grope. Dass er seinen Dienst auf der "Passat" antrat, war Zufall. Insgesamt zwei Jahre verbrachte er auf dem Segler, unternahm in dieser Zeit vier Reisen. Vor der letzten Reise des Schiffes wurde er von der Reederei abbestellt und auf einem anderen Schiff eingesetzt - und verpasste damit genau jene verhängnisvolle Tour, die die Besatzung der "Pamir" das Leben kostete und die auch die "Passat" beinahe verunglücken ließ. "Ich bin froh, dass ich den Besuchern heute zeigen kann, wie wir damals gelebt haben. Viele Häfen beneiden uns um die ,Passat", sagt Grope. Seit 2003 führt er Besucher über das Schiff, zusammen mit Walter Dühring und ein paar anderen Kollegen vom Verein "Rettet die Passat".

Der Verein kümmert sich seit 1978 darum, die Viermastbark instand zu halten. Damit die etwa 50 000 Besucher pro Jahr auch weiterhin ein gut erhaltenes Segelschiff betreten können, bringt die Hansestadt Lübeck jedes Jahr etwa 450 000 Euro auf. Zusätzlich unterstützt der Verein die Stadt, finanzierte zuletzt eine Teilerneuerung des hölzernen Decks. Über die Jahre sammelten die Mitglieder über vier Millionen Euro, rechnete der Vorsitzende Hartmut Haase aus. Dazu kommen die vielen kleinen Erinnerungen, die mit Geld kaum zu bezahlen sind: In zwei alten Ladeluken hat der Verein unzählige alte Unterlagen und Dokumente zusammengetragen, die an die Geschichte der "Passat" erinnern. In diesen Tagen wird darüber hinaus der Laderaum im Bauch des Schiffes ausgebaut und für Besucher zugänglich gemacht.

Am besten weiß Mike Ziesmer (43), wie es um den Zustand des alten Schiffes bestellt ist. Er ist einer der vier Bootsmänner an Bord und kümmert sich seit 16 Jahren darum, dass alles funktioniert. Die Aufgaben werden mit den Jahren allmählich umfangreicher: Von der Erneuerung des Decks über das Entfernen von Rost bis zur Wartung der Takelage kommt Ziesmer zum Einsatz. "Es gibt immer genug zu tun."

Zwar blättert allenthalben der Rost ab, doch gleichwohl bemühen sich viele darum, dass der Viermaster nicht verstaubt: Das Schiff dient gleichzeitig als Veranstaltungsort, nicht selten finden Hochzeiten an Bord statt, und regelmäßig präsentieren die Musiker vom "Passatchor" Seemannslieder an Bord. In Lesungen wird aus den Schiffstagebüchern zitiert. Und selbst die alte "Funkerbude" wurde im vergangenen Jahr wieder mit funktionierenden Geräten ausgestattet, seitdem dient sie als Übungsraum für Hobbyfunker und hat auch wieder ein eigenes Rufzeichen. Bald tritt auch noch eine Schauspielgruppe auf, deren Bühne gleich das gesamte Schiff ist - vom Steuerhaus bis zur Ladeluke.

Vor allem aber im Rahmen der Travemünder Woche, die vor kurzem wieder über die Bühne gegangen ist (siehe Kasten), steht die "Passat" im Mittelpunkt. Auf dem feierlich geschmückten und bei Dunkelheit beleuchteten Museumsschiff werden die Teilnehmer der unzähligen Segelregatten empfangen. Wo auch sonst.

Noch einer, der die "Passat" stets im Blick hat, ist Manfred Brüggmann. Als Hafenmeister des Passat-Hafens auf der Priwall-Halbinsel ist er zuständig für die über 500 kleinen Segelboote, die hinter der großen "Passat" festmachen. "Die Segler schätzen das Flair des alten Schiffes und legen deshalb gerne hier an", sagt er. Etwa 50 zusätzliche Gastschiffe hatten sich in den Tagen vor der Travemünder Woche am Hafen angemeldet: Wer einen festen Liegeplatz haben will, muss sich auf eine Wartezeit von bis zu drei Jahren einstellen, sagt er nicht ohne Stolz. Für Brüggmann hat das ohne Zweifel mit dem prominentesten Schiff des kleinen Hafens zu tun. "Es ist immer wieder ein erhabener Anblick", sagt er und blickt zu den Masten auf, deren Spitzen sich 50 Meter über das Deck erheben. Doch wirkt die "Passat" mittlerweile eher klein im Vergleich zu den großen Autofähren wie etwa der "Nils Holgersson" und der "Peter Pan", die von Travemünde aus die skandinavischen Metropolen wie Helsinki oder Trelleborg ansteuern und beim Auslaufen dicht an der "Passat" vorbeigleiten. Immerhin: Eine Verwechslungsgefahr mit Automarken ist bei diesen Schiffen nicht mehr gegeben. Extra Die Travemünder Woche: Rund 2500 Segler mit bis zu 1000 Booten haben in diesem Sommer an der Travemünder Woche (23. Juli bis 1. August) teilgenommen. An Land registrierte der Veranstalter, der Lübecker Yachtclub, etwa eine Million Besucher. Die Serie von Segelregatten in der Lübecker Bucht ist nach der Kieler Woche die zweitgrößte Regattaserie Deutschlands. Sie wird seit 1898, dem Gründungsjahr des Vereins, jährlich ausgetragen. In über 30 Bootsklassen treten die Mannschaften auf zehn verschiedenen Strecken gegeneinander an. (kbb)

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