Ein Prinz zu Besuch bei den Schlottmanns

In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte einmal Familie Schlottmann: Mama Schlottmann, Papa Schlottmann, Amelie Schlottmann, Franziska Schlottmann, Thomas Schlottmann, Klein-Heinz Schlottmann und das kleine Baby Claudia Schlottmann.

Es war Ende April geworden, und die Sonne leuchtete so schön, und Papa und Mama Schlottmann bepflanzten mit großem Eifer ihren neuen Garten. Obstbäume, Rosen, Sträucher, Blumensamen, Gemüse - endlich hatte Papa einen eigenen Garten und den wollte er bepflanzen, so dass kein Fleckchen unbearbeiteter brauner Erde mehr zu sehen war. Die ersten Bienen, Schmetterlinge und Hummeln waren schon da gewesen und hatten bestaunt und beschnuppert, was es hier Neues für sie gab. "Pass auf, du wirst noch gestochen", warnte Thomas seinen Bruder Klein-Heinz, als der die kleinen Wesen zu fangen versuchte. Er selbst wusste nämlich, wie weh das tat, denn im letzten Sommer hatte eine Biene ihn in den Fuß gestochen. Ganz dick angeschwollen war der Fuß gewesen, und er hatte drei Tage lang nicht laufen können. Er wusste aber, dass die Biene ihn nicht mit böser Absicht gestochen hatte, er war ja auf sie getreten, und deshalb konnte er sie immer noch gut leiden, die kleinen dicken Brummer, und er freute sich, dass sie jetzt hier in seinem Garten flogen, um Blütenstaub zu sammeln für den Honig, den er so gerne aß. Es war schön, im Garten und auf dem Spielplatz vor ihrem neuen Haus zu spielen.
Als Thomas mit Klein-Heinz aus dem Kindergarten angelaufen kam, hatte er dieses Mal spannende Neuigkeiten zu erzählen: "Stellt Euch vor, wir haben einen neuen Jungen in unserer Gruppe. Der ist so alt wie ich und kommt aus Afrika. Er heißt Aron und hat noch zwölf Schwestern, sagt er, die sind aber nicht hier, die sind noch in Afrika. Und außerdem ist er ein Prinz."
"Ein Prinz? Wo? Wo ist er ein Prinz?", fragte Franziska, die heute früher aus der Schule gekommen war, eine ihrer Lehrerinnen war krank. "Na, in Afrika." Mama staunte: "Klingt ganz schön abenteuerlich".
Einige Tage später kam Thomas wieder aus dem Kindergarten nach Hause, aber dieses Mal erzählte Mama ihm etwas Neues: "Ich habe heute die Familie von Prinz Aron besucht." "Warum denn das?", wunderte Thomas sich. Zu seinen anderen Freunden ging sie doch auch nicht einfach, aber er wusste auch, dass seine Mama immer wieder für Überraschungen gut war: Einmal hatte sie ein Mädchen, das mit seinen Rollschuhen vor ihrem Haus gestürzt war, auf ihr Fahrrad gepackt und war mit ihr zum Arzt gefahren. Das Mädchen hatte sich ein Bein gebrochen und war später mit seiner Mama und einem großen Blumenstrauß vorbeigekommen, um sich zu bedanken. Aber warum hatte Mama die Eltern von Aron besucht? Und durfte man überhaupt einfach so bei einem König vorbeigehen, denn wenn Aron ein Prinz war, dann musste sein Vater doch wohl ein König sein.
"Na ja, ich war schon gespannt, nach dem, was du erzählt hast, und ich wollte die neue Familie kennenlernen. Und weißt Du was? Sie wohnen gar nicht weit weg von hier." Und dann erzählte Mama: Aron hatte noch eine kleine Schwester, Mahta, die war vielleicht ein halbes Jahr alt. Von den anderen elf oder zwölf Schwestern wusste sie aber nichts. Die kleine Familie lebte in einer winzigen Wohnung, und Mama fand sie sehr nett.
"Sie haben nicht viel, ich habe heute morgen schon Bettwäsche und Decken und Handtücher sortiert, da können wir einiges abgeben. Schaut ihr doch auch einmal nach, gerade du, Thomas, hast bestimmt etwas, was du Aron geben kannst. Er ist ja ungefähr so alt wie du." Thomas ging in sein Zimmer und schaute sich um. Da lagen sein Ball und die Spielzeugautos, auf dem Regal die Stofftiere, sie alle hatten gerade erst den Umzug in das neue Haus hinter sich gebracht. Nein, er konnte ihnen nicht zumuten, sich schon wieder an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Bei den Spielen war das etwas anderes, und er fand ein Puzzle mit einem Drachen, der im Dunkeln leuchtete, das konnte er ja vielleicht Aron geben. Aber eigentlich war es doch komisch, wo der doch ein Prinz war, hatte er da nicht selber Spiele und Stofftiere und Autos, viel mehr als Thomas selbst?
Mama hatte Familie Berhan - so hießen die Eltern von Aron - eingeladen, und abends um sechs standen sie alle, Aron, Frau und Herr Berhan, mit der kleinen Mahta auf dem Arm, vor der Tür. Nun war also Familie Berhan bei Familie Schlottmann. Die Berhans hatten eine Tafel Schokolade als Mitbringsel dabei.
"Oh, das ist aber lieb, die essen wir später alle gemeinsam." Mama freute sich über die Schokolade wie über einen Sack voller Gold, und Thomas wunderte sich wieder. Von einem Prinzen hatte er ein anderes Geschenk erwartet. Klein-Heinz versteckte sich hinter Papas Rücken, die neue Familie sah schon anders aus, sie sprachen auch merkwürdig. "Wir sagen danke für Einladung", sagte der Papa von Aron und verbeugte sich. Da verbeugte sich auch Thomas, bei einem König musste man das ja wohl so machen.
Mama hatte eine Suppe gekocht und Käse und Trauben auf den Tisch gestellt. Amelies Aufgabe war es oft, den Tisch zu decken, sie konnte das am besten. Deshalb sah er auch heute wieder besonders schön aus, mit Servietten und Kerzen und Blumen. "So schön", flüsterte Frau Berhan.
In Thomas Kopf purzelte alles wild durcheinander. Sollte ihr Haus schöner sein als ein Schloss? Er dachte nach und beobachtete Frau und Herrn Berhan und Aron, den Prinzen, und seine kleine Schwes ter Mahta. Sie sahen stolz aus, aber nicht wie ein König und seine Frau. Nein, sie trugen keinen goldenen Schmuck, keine glitzernden Gewänder, und Thomas begann zu ahnen, dass sie sich nicht extra verkleidet hatten, um hier nicht aufzufallen.
Alle setzten sich um den großen, festlich gedeckten Tisch. So laut und lustig es sonst bei ihnen zuging, heute saß jeder recht still und ein wenig beklommen an seinem Platz. Es war anders als sonst, die neue Familie war anders, und die Kinder wussten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Thomas beugte sich zu Amelie: "Vielleicht ist Aron doch kein Prinz?", flüsterte er. Amelie zuckte die Schultern.
Da hörten sie, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Haustür drehte: Oma kam herein. Seit Opa tot war, kam sie oft zu Besuch. Sie hatte einen eigenen Schlüssel für das neue Haus und konnte kommen und gehen, wann immer sie wollte. Heute war Opas Todestag, deshalb war Oma gekommen, alleine zu Hause war sie zu traurig.
"Oh, ihr habt Besuch." Oma erschrak. Da lief Klein-Heinz schon auf sie zu und nahm sie an der Hand und führte sie an den Tisch. Alle nickten verlegen. "Oma, guck mal, das ist Aron, er ist ein Prinz."
"Ein Prinz, na so was." "Sie wohnen jetzt hier, gar nicht weit." Mama stellte noch einen Teller mit Löffel und ein Glas auf den Tisch.
Da kletterte Klein-Heinz auf Omas Schoss und streichelte ihr Gesicht. Heute leuchteten seine Fingernägel gelb, er hatte sich schön machen wollen für den Besuch.
"Oma, warum hast du so viele Rumpeln im Gesicht?", fragte er. Oh je. Oma hörte das bestimmt nicht gern. Aber sie lachte. "Ach, Klein-Heinz, wenn du mir doch von deiner schönen Haut abgeben könntest." Sie strich über den Arm von Klein-Heinz und dann über ihr Gesicht, so, als hätte ihr Enkel eine Creme auf seiner Haut.
"Jede Rumpel ist Schrift von Leben auf Haut. Sei stolz auf Rumpel!", sagte da Herr Berhan. Alle schauten ihn an. Bis Franziska loslachte, ihr verrücktes, lautes Lachen, das mit einem Glucksen im Bauch begann und dann lauter als laut aus dem Mund herauskullerte; das, wenn es einmal in Gang gekommen war, niemand mehr stoppen konnte. "Sei stolz auf Rumpel," keuchte sie.
Auch Mama und Papa mussten lachen, und Papa erklärte Herr Berhan, dass 'Rumpel' eigentlich kein richtiges Wort für das war, was in Omas Gesicht war, dass sie eigentlich 'Falten' oder 'Runzeln' dazu sagten.
"Nein, bei uns heißt das jetzt nicht mehr Falten, bei uns heißt das 'Rumpel'". Franziska war immer noch nicht zu stoppen und ihre Fröhlichkeit steckte alle anderen an. Weshalb es nicht lange dauerte, bis es - wie immer sonst bei den Schlottmanns - fröhlich und bunt wurde. Mama brachte für alle die Suppe. Nur Oma, die aß fast nichts und streichelte gedankenverloren Klein-Heinz, bis dieser genug hatte und von ihrem Schoß hüpfte.

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