EU Justitia im Unrecht

Brüssel · Die illegale Berufung eines hohen EU-Richters hat den Steuerzahler schon viel Geld gekostet. Der bulgarische Jurist ist weiterhin in Luxemburg tätig. Dutzende Urteile könnten noch anfechtbar sein.

Die Sache ging banal los: Eine EU-Beamtin ist nicht zufrieden mit der Beurteilung durch ihren Vorgesetzten. Die inzwischen ausgeschiedene Beamtin beim Rat der EU, in den Gerichtsakten wird ihr Name mit „FV“ abgekürzt, will die Sache nicht auf sich sitzen lassen und klagt vor dem Luxemburger Gericht für den öffentlichen Dienst (GöD) am Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen ihre Beurteilung für das Jahr 2013. Und verliert. Die zweite Kammer des Gerichts für Beamtenstreitigkeiten weist ihre Klage am 28. Juni 2016 ab. Doch „FV“ gibt nicht auf. Nun zieht sie vor die nächste Instanz. Ihre Anwaltin, Madame L. Levi, argumentiert, dass die Richter der Kammer nicht ordnungsgemäß berufen wurden und dass damit das Urteil hinfällig sei.

„FV“ und ihre Anwältin sind gut informiert. Am 23. Januar diesen Jahres folgt die Rechtsmittelkammer des Gerichts der Europäischen Union (EuG) ihrer Argumentation und hebt das Urteil der zweiten Kammer aus 2016 auf. Die Sache muss erneut verhandelt werden, die Kosten des Verfahrens trägt der Steuerzahler. Doch damit ist die Sache nicht erledigt. Der Fall und das Urteil mit dem Aktenzeichen T-639/16 P, von einer Beamtin losgetreten, zieht Kreise: Er entwickelt sich zu einem handfesten Skandal, in dem es um die Unabhängigkeit der höchsten EU-Richter geht und der den Steuerzahler bereits viel Geld gekostet hat.

Was ist passiert? Es geht um die Berufung von Alexander Kornezov zum Richter der zweiten Kammer. Der Jurist mit bulgarischer Nationalität war 2016 für lediglich vier Monate als Richter an das Gericht für den öffentlichen Dienst der EU berufen worden. Kornezov hatte der Ruf in dieses hoch bezahlte Richteramt ungewöhnlich früh ereilt. In dem Jahr seiner Ernennung war er gerade einmal 38 Jahre alt. Sein jugendliches Alter war nicht das Problem, vielmehr gab es Unstimmigkeiten im Berufungsverfahren dieses Richters. Das Urteil der Rechtsmittelkammer spricht eine eindeutige Sprache: „Der Richter, um den es geht, hätte nicht als legaler Richter anerkannt werden dürfen.“ Hintergrund ist, dass im Fall von Kornezov zuvor das vorgeschriebene Auswahlverfahren nicht durchgeführt wurde.

Die Sache an sich ist bereits bemerkenswert: Da wird ausgerechnet ein Richter jener Kammer auf unzulässige Weise ernannt, die darüber urteilen soll, dass alle Vorschriften bei der Ernennung von EU-Beamten peinlich genau eingehalten werden. Auch aus finanziellen Gründen ist der Fall pikant: Es war von vornherein klar, dass Kornezov nur für vier Monate benannt würde.

Es stand schon vorher fest, dass das für Beamtenstreitigkeiten zuständige Gericht vier Monate später aufgelöst und in das Europäische Gericht (EuG) integriert würde.

Für seine viermonatige Tätigkeit bekam der Richter Kornezov neben seinen Dienstbezügen, also neben seinem staatlichen Gehalt, noch einmal die Summe von 69 498,25 Euro. Darin enthalten war eine „Einrichtungsbeihilfe“ von 18 962,25 Euro, Reisekosten 493,10 Euro, Umzugskosten 2972,91 Euro sowie nach Abschluss für sechs Monate eine „Übergangsvergütung“ von 47 070 Euro.

Das Europaparlament hat im April die „unverhältnismäßig hohen Kosten“ für die kurze Amtszeit ausdrücklich gerügt. Inge Gräßle, CDU-Abgeordnete aus Heidenheim und Chefin des Haushaltskontrollausschusses im Europa-Parlament, hat den Skandal ans Licht gebracht und „verurteilt eine derartige Verschwendung von Steuergeldern der EU-Bürger“. Sie fordert, künftig bei der Berufung von Richtern zu prüfen, ob die Dauer der Dienstzeit in vertretbarem Verhältnis zu den Zulagen steht. Außerdem verlangt sie, dass die Verordnungen für die Zulagen überarbeitet und entsprechend geändert werden.

Die Verpflichtung Kornezovs für vier Monate galt auch intern als fragwürdig: Bevor ein Richter an diesem Gericht arbeitsfähig ist, bedürfe es einer mindestens dreimonatigen Einarbeitungszeit, heißt es in Justizkreisen. Hinzu kam: Von den vier Monaten, in denen er bezahlt wurde, waren sechs Wochen auch noch Gerichtsferien.

Doch der Fall hat auch juristisch unangenehme Konsequenzen: Da die Besetzung der Kammer illegal war, sind alle Urteile, an denen Kornezov beteiligt war, anfechtbar. Wie die Pressestelle des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuG) auf Anfrage unserer Zeitung mitteilt, hat „Herr Kornezov an zehn Urteilen und 27 verfahrensbeendenden Beschlüssen mitgewirkt“. Rechtsmittel seien noch in zwei Entscheidungen anhängig, die „unter Mitwirkung von Herrn Kornezov erlassen“ wurden.

Gräßle kritisiert die Missstände im Berufungsverfahren mit klaren Worten: „Was nutzen uns Richter, die den Steuerzahler viel Geld kosten, wenn wir am Ende eine derartige juristische Pleite erleben und die Urteile nicht Bestand haben?“

Die Entscheidung über die Berufung des EU-Richters ist im Rat getroffen worden, dem EU-Gremium der 28 Mitgliedstaaten der EU. Wie zu hören ist, haben die bulgarischen Vertreter in dem Gremium mit Nachdruck die Benennung von Kornezov vorangetrieben. Die Bundesregierung habe anfänglich Bedenken gehabt, ihren Widerstand dann aber im Vorfeld der entscheidenden Sitzung im März 2016 aufgegeben.

Gräßle: „Ich will wissen, wer dafür die politische Verantwortung hat.“ Außerdem verlangt sie: Es müssten die nötigen Konsequenzen gezogen werden, damit eine Wiederholung ausgeschlossen ist.

„Die Verantwortlichen können sich nicht damit herausreden, dass die Sache einfach nur dumm gelaufen ist.“ Es sei vielmehr eine Pleite mit Ansage gewesen. „Bevor der umstrittene Richter ernannt wurde, gab es frühzeitig Warnungen aus dem Umfeld des Gerichts, die Warnungen wurden aber vom Rat ignoriert.“

Der Fall Kornezov ist damit aber noch nicht ausgestanden. Der Bulgare, der nach seinem Jurastudium in Sofia einen Master am renommierten Europa-College im belgischen Brügge gemacht hat und fachlich einen glänzenden Ruf genießt, ist weiterhin als EU-Richter tätig.

Das Urteil der Rechtsmittelkammer, das seine Berufung als illegal befunden hat, hat seiner Karriere offensichtlich nicht geschadet. Im Gegenteil: Kornezov ist zum Richter am Europäischen Gericht (EuG) ernannt worden. Dort ist der Jurist als Richter der siebten Kammer bis heute an Urteilen und sonstigen Beschlüssen beteiligt.

Es rumort im Umfeld des Gerichts und auch in der Richterschaft. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, dass die zweite Ernennung Kornezovs, diesmal an das EuG, ebenfalls illegal war. Wie zu hören ist, ist der Unmut in der Richterschaft so groß, dass er sich bereits in stillem Protest manifestiert habe. Einige blieben demonstrativ dem Festakt fern, bei dem Kornezov in sein Amt eingeführt wurde und bei dem der neue Richter eine Art Gelöbnis ablegen muss.

Kritiker verweisen darauf, dass der Richterauswahlausschuss im Auswahlverfahren Kornezovs Tätigkeit am GöD sicher als positiv gewertet hätte. Unter den bulgarischen Kandidaten sei er der einzige gewesen, der diese Erfahrung habe vorweisen können. Zwar ändere die Illegalität seiner ersten Berufung nichts an den Erfahrungen, die er gesammelt habe. Doch der Rat habe ihm mit der seinerzeit illegalen Berufung einen beträchtlichen Startvorteil gegenüber anderen Kandidaten verschafft. Möglicherweise, so heißt es, habe Bulgarien ja auch eben deswegen so sehr darauf gedrungen, Kornezov seinerzeit für nur vier Monate auf den Richterposten am GöD zu hieven: Es sei eigentlich darum gegangen, seine Chancen für die spätere Bewerbung am EuG zu verbessern.

Auf die Frage unserer Zeitung, ob Kornezovs Berufung und andauernde Tätigkeit seit dem Urteil vom 23. Januar 2018 nicht vorschriftswidrig ist, antwortete ein Sprecher des Gerichts so: Er dürfe „darauf hinweisen, dass dieses Urteil nur die Ernennung von Herrn Kornezov als Richter des GöD betrifft“. Und weiter heißt es: „Dagegen wurde die Ernennung von Herrn Kornezov als Richter des EuG nicht infrage gestellt.“

Auf den ersten Blick klingt die Formulierung eindeutig. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass sie durchaus Interpretationsspielraum lässt. Womöglich wurde die Ernennung von Herrn Kornezov lediglich noch nicht infrage gestellt. Im Umfeld des Gerichts heißt es, dass im zweiten Berufungsverfahren unterlegene Kandidaten aus Bulgarien gegen die Entscheidung des Richterauswahlausschusses klagen könnten. Und dass man ihnen durchaus Chancen einräumt – wegen des beträchtlichen Startvorteils, der durch das erste illegale Berufungsverfahren Kornezov verschafft worden sei. Abzuwarten bleibt, ob noch eine Klage eintrudelt. Klar ist, wie viele EuG-Urteile betroffen wären, wenn auch Kornezovs zweite Berufung illegal wäre: Seit seinem Amtsantritt hat er Stand heute an 30 Urteilen und 23 verfahrensbeendenden Beschlüssen mitgewirkt. Es könnte für den Steuerzahler also noch einmal sehr teuer werden.

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