Zunehmende Migration über Polen „Da könnte sich was entwickeln“

Berlin · Noch sind die Zahlen nicht so dramatisch wie 2015 im Süden Deutschlands. Aber die Migrationsentwicklung an der Ostgrenze zu Polen ist sehr dynamisch. Die Bundesregierung wird an diesem Mittwoch über verstärkte Kontrollen und andere Reaktionen beraten.

In Brandenburg stehen Bundespolizisten am Dienstag neben einer Gruppe von Migranten, die zuvor über die deutsch-polnische Grenze gegangen waren.

In Brandenburg stehen Bundespolizisten am Dienstag neben einer Gruppe von Migranten, die zuvor über die deutsch-polnische Grenze gegangen waren.

Foto: dpa/Danilo Dittrich

Im September kamen im Schnitt 50 täglich, im Oktober sind es bereits hundert. Diese Afghanen, Syrer, Iraker und Flüchtlinge aus anderen Nationen folgen dem Konzept des weißrussischen Diktators Alexander Lukaschenko, reisen nach Belarus und versuchen von dort nach Polen und weiter nach Deutschland zu kommen. „Da könnte sich was entwickeln“, meinte Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus, nachdem er sich mit seinem Migrationsexperten Thorsten Frei am Dienstag in Frankfurt an der Oder die Situation angeschaut hatte. Es werde immer dramatischer und es sei in Polen zu erleben, was passiere, wenn „Migration als Waffe eingesetzt“ werde, berichtete Frei. An diesem Mittwoch bringt Innenminister Horst Seehofer (CSU) das Problem ins Kabinett.

Nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung und einem schwerwiegenden Eingriff in den Luftverkehr hatte die EU Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime auf den Weg gebracht. Die Migrationsentwicklung scheint nun seine Antwort zu sein. Es gebe Hinweise, dass weißrussische Kontaktleute unter Flüchtlingen im Libanon und im Irak damit werben, problemlos nach Weißrussland reisen und von dort aus weiter in die EU kommen zu können, erläuterte Frei Zu vermuten sei auch, dass dieses Manöver nicht ohne Zustimmung Russlands erfolge. Ziel sei die Destabilisierung Europas.

Seehofer regte in einem Brief an seinen polnischen Amtskollegen Mariusz Kaminski verstärkt polnisch-deutsche Kontrollen vorwiegend auf polnischer Seite an. Brinkhaus brachte aus Frankfurt den Eindruck mit, dass dies schon hervorragend funktioniere. Auch Frei beschrieb, wie sehr sich Polen bemühe, die Situation in den Griff zu bekommen. Aus dem Innenministerium kam dazu die aktuelle Statistik, wonach sich Warschau bereit erklärt habe, 128 Flüchtlinge zurückzunehmen, die nach den Prinzipien der EU ihr Asylverfahren in Polen und nicht in Deutschland durchführen müssen. Allerdings gibt es derzeit wenige „Treffer“ von in Deutschland aufgegriffenen Flüchtlingen, die ihre erste Registrierung in Polen hatten. Sie scheinen also von Schleusern unterhalb der Wahrnehmung der Behörden durchs Land gebracht zu werden.

Seehofer will den Kabinettskollegen eine Reihe von möglichen Optionen auf den Tisch legen. Eine Schließung der Grenzen wird wohl nur als theoretische Möglichkeit angesprochen, wegen der problematischen Auswirkungen auf den deutsch-polnischen Personen- und Güterverkehr jedoch nicht weiter verfolgt werden. Die Bundespolizei hat vielmehr bereits acht Hundertschaften zusätzlich in die Grenzregion verlegt, um dort mehr Schleierfahndung betreiben zu können. Dazu sollen Stichproben an den Grenzen kommen. „Wir werden auch in den einen oder anderen Lkw schauen, ob dort Menschen verdursten oder ersticken“, kündigte Bundespolizei-Chef Dieter Romann an.

Vor allem das Außenministerium von Heiko Maas wird aller Voraussicht nach gefordert sein, den Druck auf Weißrussland zu erhöhen. Es könnte zu weiteren Sanktionen gegen weißrussische Fluggesellschaften kommen. Daneben wird die Bundesregierung auch die aktuelle Flüchtlingssituation in Afghanistan analysieren und herauszufinden versuchen, welche Auswirkungen diese auf Deutschland haben könnte. Schon vor dem endgültigen Abzug der Bundeswehr vom Hindukusch hatte die Regierung darauf achten wollen, dass möglichst wenig Bilder einer Migration von Afghanistan nach Deutschland entstehen. Weil darunter auch Tausende von Ortskräften zu leiden haben, hatte es massive Kritik an der abwartenden Haltung der Regierung gegeben.

Auf der Tagesordnung des Kabinetts steht zudem das zunehmende Problem der Sekundärmigration. Das sind Asylsuchende, die bereits in einem anderen EU-Land Schutz gefunden hatten, sich dennoch weiter auf den Weg nach Deutschland gemacht haben. Aktuell geht es nach Romanns Angaben um rund 9200 Ankömmlinge in diesem Jahr aus den Nachbarstaaten und einen angestauten Bestand von 34.000 Anträgen, die eigentlich in Griechenland zu bearbeiten wären. Zunehmend verhinderten aber auch deutsche Gerichte die Rücküberstellung, berichtete Frei.

Besonders prekär scheint sich - weitgehende unbeobachtet - die Situation im polnisch-weißrussischen Grenzgebiet zu entwickeln. Dutzende von Flüchtlingen sollen sich hier aufhalten, die ohne Schutz und Versorgung nicht nach Weißrussland zurück und nicht nach Polen hinein gelassen werden. „An der Außengrenze der EU in Polen ist die Flüchtlingskonvention faktisch außer Kraft gesetzt“, kritisiert der Europa-Chef der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl, Karl Kopp. Er warnte die EU, als Antwort auf Diktatoren selbst die Menschenrechte außer Kraft zu setzen. „Diktatoren gewinnen dann, wenn Rechtsstaaten selbst die Flüchtlingskonvention brechen“, erklärte Kopp. Wer den Rechtsstaat in dieser Art erodieren lasse, gefährde am Ende seine eigene Demokratie.

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