"Europa ist nicht der gute Onkel" Der Lieblingsjurist des Feuilletons

Trier · Das Thema Europa ist derzeit brisanter als je zuvor. Bürgerproteste, zunehmende Skepsis, Ärger über Bürokratie, Angst um Stabilität: Es sind negative Schlagzeilen, die das Bild prägen. Vor diesem Hintergrund sprach TV-Redakteur Dieter Lintz mit Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio. Mit Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat die Uni Trier einen ungewöhnlichen Wissenschaftler für die Gastprofessur des Freundeskreises im Jahr 2011 gewonnen. Seine Vorlesungen - heute um 18.15 Uhr ist die vorerst letzte - verbinden, was sonst so selten zusammenwächst: fachliche Kompetenz, rhetorische Brillanz und einen auch für Nicht-Eingeweihte nachvollziehbaren Blickwinkel.

Herr Di Fabio, wie stabil ist der Bau Europa noch - oder neigen wir Medienleute zur Panikmache?Di Fabio: Die Medien neigen dazu, jedes größere Problem Europas zur Identitäts- oder Systemfrage zu machen. Doch Europa ist stabiler, als man denkt, und Probleme sind bei jeder politischen Gemeinschaft normal.Aber zurzeit schwindet doch sichtlich das Einverständnis der Menschen in vielen Ländern mit den Vorgaben, die aus Europa kommen. Irgendwann stellt sich doch die Frage, ist das noch "normaler" Protest oder geht das schon an die Legitimation des ganzen Konstrukts.Di Fabio: Die Politik hat - durchaus zu Recht - immer den Vorteil der Gemeinschaft für jeden Bürger herausgestellt. Aber zu glauben, man könne eine politische Integration immer weiter vorantreiben, indem man mit Vorteilen für jeden wirbt, halte ich für eine Illusion. Jede politische Gemeinschaft trifft auch unangenehme, manchmal falsche Entscheidungen. Darüber muss politisch gestritten werden, aber man sollte nicht gleich das ganze System über Bord werfen.Nun könnte man aus den aktuellen Entwicklungen schließen, dass Europa zu viel Einfluss nimmt. Man könnte aber auch umgekehrt sagen, dass es offenbar nicht genug Steuerungsmechanismen gibt, um das Fehlverhalten einzelner Nationalstaaten zu unterbinden, das letztlich allen schadet …Di Fabio: Europa ist in seiner Struktur ein Grenzgang zwischen einem lockeren Staatenbund und einem Bundesstaat. Das gilt auch für die Währungsunion. Einerseits gibt es eine gemeinsame Zentralbank, andererseits die wirtschaftspolitische Eigenverantwortung der Staaten. Das kann nur funktionieren, wenn dort die Hausaufgaben gemacht werden. Wenn die Länder ermattet in die Arme Brüssels sinken, geht das nicht. Wir brauchen ein starkes Europa und starke Staaten. Schwächelt eine Seite, schwächelt das ganze System. Sie haben in Ihrer Vorlesung einen schönen Vergleich gebraucht für die ärmeren Euro-Länder: Denen hätten ihre reichen Nachbarn ihre goldene Kreditkarte in die Tasche gesteckt, allerdings mit der Prämisse, dass sie alles zurückzahlen müssen. Jetzt kommt die Abrechnung für Griechen, Iren, Spanier, aber die Bevölkerung sieht nicht ein, dass sie weit über ihre Verhältnisse gelebt hat. Wie bringt man das wieder zur Deckungsgleichheit?Di Fabio: Das Zauberwort heißt Eigenverantwortlichkeit. Solidarität in der Stunde der Not, aber ansonsten nur so, dass wieder jeder in freier Selbstbestimmung wirtschaften kann. Alles andere legt die Axt an die Akzeptanz der EU. Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe. Solidarität beim Aufbau der Wettbewerbsfähigkeit: ja. Aber wenn ein Land dazu dauerhaft nicht in der Lage ist, kann es kein Alimentationssystem geben. Nun hat man aber europaweit Akzeptanz für das Projekt eingeworben, indem man auf die ökonomischen Vorteile hingewiesen hat. Dass Europa auch eine Wertegemeinschaft, eine zivilisatorische Errungenschaft bedeutet, hat eine weniger große Rolle gespielt. Kann es sein, dass sich das jetzt rächt, wo das mit der Ökonomie nicht so reibungslos funktioniert? Di Fabio: Europa ist gegen starke nationalstaatliche Beharrungskräfte gebaut worden. Da musste man mit dem zählbaren Nutzen werben. Heute sollte man ehrlicher sein und sagen, dass jede politische Gemeinschaft Anstrengungen und Opfer verlangt, die sich auch jenseits wirtschaftlichen Nutzenkalküls lohnen. Es gibt so ein diffuses Gefühl mancher Bürger zu sagen: Wir wollen da wieder raus. Und wenn wir nicht raus können, sollen wenigstens die gehen, die uns behindern. Ist das, abgesehen von der Sinnhaftigkeit, ein theoretisch gangbarer Weg?Di Fabio: Formal gibt es immer Wege … Der Lissabonner Vertrag lässt ausdrücklich den Austritt zu. Da muss man sich über die Bedingungen einigen …… und wenn nicht?… dann tritt man trotzdem aus. Bei der Währungsunion ist es nicht ganz so klar. Aber das ist zurzeit Theorie. Europa ist eine Realität, ohne die wir alle Verluste erleiden würden. Niemand will ernsthaft re-nationalisieren, der Preis wäre riesengroß.Mit dem Flüchtlingsstrom aus Nordafrika taucht ein neues Problem auf, und es sieht nicht so aus, als hätte Europa da gemeinsame Rezepte. Das riecht eher nach St.- Florians-Prinzip. Liegt da auch Sprengstoff?Di Fabio: Wenn ein Staat nicht mehr kontrollieren kann, wer auf seinem Gebiet lebt, dann verliert er Identität und Kernkompetenz. Deshalb ist die Aufnahme von Emigranten eine hochpolitische Frage, für die es auch die demokratische Zustimmung der Bürger braucht. Da geht es nicht nur um effektive Regulierung, deswegen ist es so schwer, sich da zu einigen. Die Nationalstaaten werden hier nicht sehr leichthändig weitere Kompetenzen preisgeben, man sollte ihnen vielleicht auch nicht dazu raten.Nun reden wir über Probleme, aber gefragt sind natürlich Lösungsansätze, wie es in Europa weitergehen könnte. Die weitere Zentralisierung von Macht und Kompetenzen in Brüssel ist nach Ihrer Meinung ja offenkundig nicht der richtige Weg.Di Fabio: Die Mitgliedstaaten müssen sich regenerieren, vor allem haushaltspolitisch. Die EU braucht Gesichter, mit denen die Bürger etwas anfangen können. Es muss politisch sichtbarer und leichter erfahrbar werden. Wir brauchen auch ein anderes Bild von Europa: Nicht der Fahrradfahrer, der ohne Bewegung gleich umfällt, sollte in den Sinn kommen, sondern ein Ort des immer wieder gelingenden Ausgleichs und der Definition eines gemeinsamen Interesses. Europa ist nicht der gute Onkel, der Wundertüten verschenkt, sondern eine politische Einheit, die Akzeptanz verdient und nach Kontrolle verlangt. Wir müssen unsere europäischen Abgeordneten und unsere Regierung für europäische Entscheidungen verantwortlich machen ……und eine europäische politische Partei …… könnte ein wichtiger Faktor sein. Bei der derzeitigen Stimmungslage ist das vielleicht mehr Wunschdenken als Wirklichkeit. Aber wir werden ein bundesstaatlich vereintes Europa nicht auf Schleichwegen erreichen. Dann muss man das Visier aufklappen und sagen: Wir wollen einen europäischen Bundesstaat und werben dafür.Hand aufs Herz: Sehen Sie in Deutschland irgendeine politische Kraft, die in diese Richtung geht?Di Fabio: Ich weiß es nicht. Aber der eingangs genannte Grenzgang ist irgendwann zu Ende. Und dann muss man sich entscheiden: das Erreichte bewahren, zurückgehen oder nach vorn.Udo Di Fabio, geboren 1954 in einer Arbeiterfamilie, war zehn Jahre Verwaltungsbeamter im mittleren Dienst, bevor er eine atemberaubende akademische Laufbahn startete. Doppel-Doktor in Soziologie und Jura, Professor in Münster, Trier, München, heute Bonn. Seit 1999 im 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts, als Berichterstatter maßgeblich an vielen wichtigen Urteilen beteiligt. Sein Buch "Die Kultur der Freiheit" war eine der meist diskutierten Publikationen des Jahres 2005. Di Fabio ist verheiratet und hat vier Kinder. Der abschließende Vortrag seiner Gastprofessur zum Thema "Europas Perspektiven - Was kommt nach Lissabon?" findet heute um 18.15 Uhr im Audimax statt. DiL

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