Schwere Unruhen erschüttern Baltimore - Nationalgarde eingerückt

Baltimore · Die Wut entlädt sich am helllichten Tag. Polizisten werden angegriffen, Geschäfte geplündert. Nun schreitet in Baltimore die Nationalgarde ein.

Acht Jahre hat es gedauert, das Gebäude hochzuziehen, Stück für Stück, mit längeren Pausen dazwischen, das Gros der Kosten finanziert durch Kirchenspenden. Im Herbst sollte es eingeweiht werden: sechzig Sozialwohnungen für Ältere, im Parterre diverse Beratungsstellen. Wenige Wochen noch, dann wäre das Dach draufgesetzt worden, erzählt Donté Hickman, Pfarrer der Southern Baptist Church in Baltimore, die noch vor sechs Tagen stolze Bilder des Baufortschritts auf ihre Facebook-Seite gestellt hatte.

Nach eine Nacht heftiger Krawalle ist das Mary Harvin Center nur noch ein Haufen verkohlter Trümmer, vollkommen niedergebrannt. Und der Reverend Hickman sagt bitter, dass er sich den Kampf für Gerechtigkeit anders vorgestellt habe. "Das ist Chaos und Verwirrung. Aber es wird gut ausgehen, wir werden diese Gemeinschaft wieder zusammenstricken."

Bis weit in die Nacht, bis zum frühen Dienstagmorgen, stand Baltimore im Zeichen sinnloser Gewalt. Polizeiautos wurden abgefackelt, Läden geplündert, bevor sie in Flammen aufgingen. Steine und Flaschen flogen, Schaufensterscheiben gingen zu Bruch. Am Morgen danach meldete das Baltimore Police Department 15 verletzte Ordnungshüter, während über die Zahl der verwundeten Zivilisten zunächst nicht einmal Schätzungen vorlagen. Larry Hogan, der republikanische Gouverneur des Bundesstaats Maryland, rief den Notstand aus und mobilisierte fünftausend Militärs der Nationalgarde. Es ist binnen acht Monaten das zweite Mal, dass Nationalgardisten bei Unruhen in einer amerikanischen Stadt zum Einsatz kommen, das zweite Mal nach Ferguson, wo im August der schwarze Teenager Michael Brown von einem Polizisten erschossen wurde. Im Oval Office telefonierte Präsident Barack Obama mit Stephanie Rawlings-Blake, der afroamerikanischen Bürgermeisterin der alten Hafenmetropole. Die demokratische Politikerin hatte zunächst darauf gesetzt, den Spannungen durch ein eher zurückhaltendes Auftreten der Uniformierten die Spitze zu nehmen. Nach den schockierenden Bildern der Nacht ließ sie ihrem Frust freien Lauf. "Es ist doch idiotisch zu glauben, dass man das Leben für irgendwen besser macht, indem man seine eigene Stadt zerstört. Ich verstehe nicht, wie Jeans zu stehlen Freddie Gray Gerechtigkeit bringen soll."

Freddie Gray, ein 25-Jähriger aus der heruntergekommenen Westside von Baltimore, war am 19. April in einem Krankenhaus gestorben, nachdem ihn Polizisten sieben Tage zuvor festgenommen und dabei offenbar schwer verletzt hatten. Es gibt ein Video, aufgenommen von der Handykamera eines Passanten, das Gray vor Schmerzen schreiend, wie gelähmt zwischen den Beamten zeigt, die ihn stur abführen. Statt einen Krankenwagen zu rufen oder Erste Hilfe zu leisten, schleifen sie ihn zu einem Gefängnistransporter. In der Klinik erwacht er nicht mehr aus seinem Koma, als Todesursache konstatieren die Ärzte eine schwere Rückenmarksverletzung.

Am Montag, bei der Trauerfeier für Gray in der New Shiloh Baptist Church, saßen nicht nur Kongressabgeordnete und Bürgerrechtler in den Reihen, sondern auch Abgesandte des Weißen Hauses. Es sollte ein Abschied in Würde werden, zugleich ein Signal, dass sich das Land den sozialen Problemen in manchen ghettoähnlichen Vierteln seiner Großstädte mit größerer Dringlichkeit widmen muss. Wie viele junge Schwarze habe Freddie ein Leben geführt, als hätte man ihn in eine Kiste gesteckt, beklagte der Pastor Jamal Bryant in seiner Predigt. In eine Kiste mit schlechter Bildung, miesen Jobaussichten und Stereotypen des Denkens in Rassenkategorien - "die Kiste, von der man glaubt, schwarze Männer seien entweder Gangster oder Athleten oder Rapper".

So pointiert der Geistliche dazu aufrief, Ruhe zu wahren, gerade an einem Tag der Trauer, Gehör fand er nicht. Auch Fredricka Gray, die Zwillingsschwester des Toten, stand auf ziemlich verlorenem Posten. Bereits am Tag vor der Beisetzung, nach einem turbulenten Wochenende, hatte sie übers Fernsehen einen fast verzweifelt klingenden Appell an ihre Altersgenossen gerichtet. "Meine Familie will nur sagen, bitte, bitte, könnt ihr aufhören mit der Gewalt. Freddie hätte das nicht gewollt." Kaum waren am Montag die Trauerreden verklungen, verbreitete sich über soziale Netzwerke in Windeseile ein giftiges Gerücht. Gleich beginne eine Zwölf-Stunden-Phase, hieß es in Anlehnung an den dystopischen Thriller "The Purge", in der man ungestört plündern dürfe, ohne dass es als Straftat gelte.
Meinung

Frank Herrmann

Ein Rückfall in vergessen geglaubte Zeiten

Niedergebrannte Gebäude, geplünderte Geschäfte, das alles weckt Erinnerungen. Was in Baltimore geschieht, lässt an Zeiten denken, die Amerika überwunden zu haben glaubte. Es ist fast wie bei einer Zeitreise zurück in die Sechzigerjahre, als der angestaute Frust junger Schwarzer die Problemviertel in den großen Städten der USA in den Ausnahmezustand stürzte.

In Ferguson, wo es mit der Ruhe vorbei war, nachdem ein weißer Polizist den schwarzen Teenager Michael Brown erschossen hatte, beschränkten sich die Proteste des vergangenen Sommers, so heftig sie waren, auf eine Kleinstadt in der Provinz. In Baltimore, wo ein junger Afroamerikaner im Zuge einer Festnahme starb, treffen sie eine City. Noch dazu eine, die gern ihre Erfolgsstory präsentierte, urbane Renaissance mit einem schmucken Hafenviertel als Juwel.

Auf einmal erkennt man, wie sehr der Blick auf eine oberflächlich restaurierte Fassade trügen kann, wie vieles er nur verdeckt. Im vernachlässigten Westen von Baltimore, aber nicht nur dort, haben sich Ghettowelten verhärtet, Welten der Perspektivlosigkeit, die der Rest des Landes am liebsten vergessen hätte. Nun meldet sich dieses Milieu zurück auf der Bildfläche, voller Zorn und nicht mehr bereit, sich nette Geschichten anzuhören wie die, dass es für schwarze Amerikaner vorangeht, weil mit Barack Obama ein Mann mit dunkler Haut im Weißen Haus residiert. Es ist der wütende Protest der Abgehängten, die eine riesige Kluft sehen zwischen schönen Sprüchen und trister Realität. Wie gesagt, die Rebellion trifft einen empfindlichen Nerv. Denn auch vor fünfzig Jahren waren es innerstädtische Krisenviertel, die in Nächten unkontrollierter Gewalt brannten. Ob Baltimore eine Neuauflage dieses Kapitels bedeutet? Seriös kann die Frage einstweilen wohl niemand beantworten. Aber dass sie gestellt wird, das allein zeigt, wie ernst die Lage ist. nachrichten.red@volksfreund.de

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