Vorbeugung gegen Missbrauch: Kindern zuhören

Es vergeht kaum ein Tag, an dem in den Medien nicht über Missbrauchsfälle oder Kinderporno-Razzien berichtet wird. Nimmt die sogenannte Pädo-Kriminalität zu? Oder wächst nur die öffentliche Aufmerksamkeit?

Trier. (sey) Reichen die bestehenden Gesetze aus, um Kinder vor Missbrauch zu schützen? Über diese und andere Fragen sprach am Rande einer Expertentagung an der Katholischen Akademie Trier TV-Redakteur Rolf Seydewitz mit dem renommierten Polizei-Psychologen Professor Adolf Gallwitz.

Täuscht der Eindruck oder nimmt der sexuelle Missbrauch von Kindern tatsächlich zu?

Gallwitz: Wir haben seit vielen Jahren eine sogenannte Dunkel-Hellfeld-Verschiebung, das heißt: Es werden mehr Missbrauchsfälle bekannt; damit steigt die öffentliche Wahrnehmung. Es gab die Missbrauchsfälle auch früher schon, nur wurden sie weniger häufig angezeigt und aufgeklärt. Ob die Zahlen wirklich steigen, kann niemand seriös sagen.

Vor dem Trierer Landgericht werden gerade mehrere Missbrauchs-Fälle verhandelt. Die Angeklagten kommen überwiegend aus dem Bekannten- oder Angehörigenkreis: Inwiefern ist das typisch?

Gallwitz: Es ist nicht unerwartet. Wir haben eine Zunahme an psychischen Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen. Und es gibt eine Zunahme von nicht mehr funktionierenden Familien. Bedeutet: Kinder und Jugendliche werden früh traumatisiert und oft nicht mehr hinreichend geschützt.

Was ist von der immer wieder gehörten Geschichte des unbekannten Mannes zu halten, der kleine Kinder auf der Straße anspricht und dann in seinen Wagen lockt … ?

Gallwitz: Das ist schon seit vielen Jahrzehnten kontraproduktiv. Nichts ist schlimmer als Hilflosigkeit, dass man nicht weiß, um was es geht. Dann werden Klischees und Vorurteile weiter verfolgt.

Oft wird gesagt, dass in Missbrauchsfällen die Täter in ihrer Kindheit häufig selbst missbraucht wurden: Gibt es da tatsächlich einen Zusammenhang?

Gallwitz: Es gibt diesen Zusammenhang, aber nur bei etwa einem Drittel der Täter. Wir haben einen wesentlich unterschätzten Anteil an traumatisierten jungen Menschen und Erwachsenen mit Empathie- oder Impulsstörungen (Anm: gemeint sind Einfühlungsvermögen, Depressionen und Stimmungsschwankungen). Diese Menschen sind gefährdet, nicht nur Fantasien zu haben, sondern diese auch ausleben zu wollen.

Immer wieder, wenn ein spektakulärer Missbrauchsfall in den Schlagzeilen ist, gibt es aus der Politik Forderungen nach schärferen Gesetzen: Populismus oder gerechtfertigt?

Gallwitz: Das ist eine typisch deutsche Form des Umgehens mit der Angst. Wir sind weltweit berühmt durch unsere Regelungswut: Ich weiß nicht, worum es geht. Ich weiß also auch nicht, wie man dagegen ankämpft. Also wird der Staat aufgefordert, irgendetwas zu machen: ein neues Gesetz, das Internet verbieten oder sonst etwas. Auf diesen Zug springen natürlich auch die Politiker auf.

Im Klartext: Die bestehenden Gesetze reichen aus?

Gallwitz: Wir haben so viele Gesetze, dass wir sie durchforsten und vereinheitlichen müssten. Ein Defizit besteht eher darin, die Einhaltung der bestehenden Gesetze zu kontrollieren.

Können Kinderschänder überhaupt therapiert werden - oder anders gefragt: Wie hoch ist die Rückfall-Gefahr nach ihrer Entlassung?

Gallwitz: Das kommt auf den Täter-Typus an. Wir haben einen nicht unerheblichen Kreis, wo es große therapeutische Erfolge gibt. Und wir haben sicher einen Prozentsatz an Tätern, wo die therapeutischen Möglichkeiten gering sind.

Wie können Eltern erkennen, dass ihr Kind möglicherweise Opfer eines Missbrauchs geworden ist? Worauf sollten sie achten?

Gallwitz: Wenn wir Eltern anleiten wollen, habe ich immer so den Verdacht, dann haben diese Eltern seit einiger Zeit den Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen verloren. Als für die Kinder in der Pflicht Stehende müssen wir am Ball bleiben; wir müssen auch in schwierigen Entwicklungszeiten versuchen, mit den Kindern zu reden und zuzuhören, auch wenn sie eklig, stinkig und pampig werden. Und wir dürfen nicht gleich in Panik verfallen, wenn wir einen Anfangsverdacht haben. Denn wenn die Kinder an der Reaktion der Eltern merken, dass da etwas ganz Schlimmes passiert sein muss, haben sie schon eine Art Traumatisierung.

Sie sagen, viele Eltern haben den Kontakt zu ihren Kindern verloren: Inwiefern ist da nicht auch das Internet eine Gefahr, wo sich ja inzwischen viele Pädera sten tummeln?

Gallwitz: Wir haben ein erschreckendes Unwissen, eine Ignoranz im Zusammenhang mit den modernen Medien. An den Schulen gibt es kaum Medienkompetenz, viele Erwachsene kennen sich mit Themen wie dem Internet nicht aus. Da sind Eltern froh, dass ihre Kinder nicht draußen sind und mit bösen Kindern spielen. Und sie ahnen nicht, dass die gesamte Kriminalität schon seit Jahren in die Kinderzimmer hereingekommen ist. Zur person Der Kriminalpsychologe Adolf Gallwitz (58) lehrt an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen. Bei aufsehenerregenden Kriminalfällen ist er häufig als Experte in Fernsehsendungen gefragt. Gallwitz ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt veröffentlichte er im vergangenen Jahr gemeinsam mit Manfred Paulus ein Buch über die weltweite Pädokriminalität.

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