"Wir haben doch genügend Platz im Haus"

Die zweistelligen Minus-Temperaturen der vergangenen Tage haben in Rheinland-Pfalz ein erstes Todesopfer gefordert: In Igel bei Trier starb eine 58-jährige Obdachlose an Unterkühlung. Die aus Norddeutschland stammende Frau lebte mit ihrem Begleiter in einem winzigen Iglu-Zelt. Vor Ort ist die Betroffenheit groß.

Igel. Nichts mehr erinnert an diesem frühen Donnerstagmorgen, ein paar hundert Meter vom Igeler Campingplatz entfernt, zwischen Mosel-Radweg und Eisenbahntrasse, an das tragische Geschehen am Tag zuvor. In dem von außen kaum einsehbaren, verbuschten Gelände steht noch das tarnfarbene Iglu-Zelt, in dem die 58-jährige Frau in jener Nacht erfroren ist - bei arktischen Temperaturen um die minus 16 Grad.

Auch an diesem Morgen ist es bitterkalt. Das überall notdürftig mit Klebestreifen geflickte Zelt ist offen, im Inneren sieht es verwahrlost und dreckig aus. Auf dem Boden liegen ein paar dünne Bretter - offenbar als Schutz gegen die Kälte von unten gedacht, darauf einige schmutzige Decken, ein blauer Schlafsack. Nichts jedenfalls, was wirklich Schutz böte vor den Tiefst-Temperaturen der vergangenen Nächte. Um das verlassene Iglu-Zelt herum sieht es ähnlich verwahrlost aus wie im Inneren: Drei alte Fahrräder stehen an einen Baum gelehnt, daneben liegen alte Kochtöpfe, etliche Plastiktüten, eine Dose Hunde-Kekse und Dutzende leere Flaschen. "Captain Grand Rum" und "Old Bourbon Whiskey" steht auf den Etiketten.

Nachdem der Lebensgefährte der Frau am Mittwochmorgen wach geworden war und bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte, hatte er noch versucht, seine Freundin wiederzubeleben. Vergeblich. Auch der später eintreffende Notarzt der luxemburgischen Air-Rescue konnte nur noch den Tod der obdachlosen Frau feststellen. "Sie war nur mit einer normalen Decke zugedeckt", sagt ein Polizeisprecher.

Über die Identität des Pärchens geben die Behörden nicht mehr heraus als das Alter und die Information, dass die beiden seit mehreren Jahren in dem Zelt unweit des Viadukts gelebt hätten. Mehrere Jahre? "Nach meinem Wissen haben sie im Sommer 2007 ihr Zelt dort aufgeschlagen", sagt Igels Ortsbürgermeister Franz-Josef Scharfbillig, dem anzumerken ist, dass ihn der Tod der Frau betroffen macht. "Das ist ein Schock fürs ganze Dorf", sagt Scharfbillig, der das eigentlich verbotene wilde Zelten des obdachlosen Pärchens duldete: "Ich war der Meinung, die tun doch niemandem 'was."

Auch andere im Ort äußern sich nicht abfällig über das angeblich aus dem norddeutschen Flensburg stammende obdachlose Paar, von dem die meisten wussten, "dass sie irgendwo da unten an der Mosel leben". "Die Frau hat hier öfter Brötchen gekauft, wenn sie mit dem Hund durchs Dorf spazieren gegangen ist", sagt Martina Schüßler aus der örtlichen Bäckerei Mölter. "Natürlich" sei die Frau ungepflegt und auch teilweise schmutzig gewesen, meint die Verkäuferin eher verständnis- als vorwurfsvoll, "aber sie war auch sehr freundlich, hat immer ,Guten Tag' und ,Auf Wiedersehen' gesagt". Ähnliches berichtet auch Liwina Deutschen von der Metzgerei gegenüber. "Sie waren wirklich sehr freundlich. Und an ihrer feinen Aussprache habe ich gemerkt, dass sie nicht von hier sind", sagt die Metzgers-Gattin. Was sie nicht sagt: Sie hat den beiden Wohnsitzlosen "auch häufiger mal etwas zugesteckt", weiß eine Nachbarin. Auch vom Besitzer des Döner-Imbisses nebenan oder anderen Geschäftsleuten habe das Pärchen "schon mal 'was ohne Bezahlung bekommen."

Das aber wohl ungewöhnlichste Angebot machte kurz vor Weihnachten die örtliche Hoteliers-Familie Blasius den beiden Norddeutschen. "Sie hätten über die Winterzeit kostenlos in einem unserer Fremdenzimmer wohnen können. Aber sie wollten nicht", sagt Chefin Natascha Blasius, die eigentlich gar nichts sagen möchte und sich nun über den fragenden Blick ihres Gegenübers wundert. "Wer soll denn bei den Temperaturen solchen Menschen helfen, wenn nicht wir als Hoteliers?", fügt sie hinzu, "wir haben doch genügend Platz im Haus." Der Trierer Obdachlosen-Betreuer ("Streetworker") Raimund Ackermann weiß um die Eigenheiten seiner Klientel. Besonders wohnsitzlose Pärchen würden nicht gerne - wenn auch nur für die Übernachtung - getrennt. "Die bleiben lieber gemeinsam zitternd zusammen draußen, als dass sie in verschiedenen Obdachlosen-Heimen schlafen", sagt Ackermann und ergänzt: "Das ist schon verrückt, passiert aber oft." Das Gratis-Zimmer hätten die beiden Igeler Wohnsitzlosen zwar abgelehnt, sagt Hotel-Chefin Natascha Blasius. "Aber mal ein warmes Essen, mal ein warmes Getränk oder mal frische Kleidung haben sie von uns dankbar angenommen. Gefragt haben sie danach aber nie." Nach dem Tod der 58-Jährigen kümmert sich die Igeler Hoteliers-Familie jetzt um den Lebensgefährten der Frau, der das Angebot eines warmen Zimmers inzwischen nicht mehr ablehnt. "Still und in sich gekehrt" sei der Mann, sagt Natascha Blasius und macht deutlich, dass sie mehr nun wirklich nicht mehr sagen möchte.

hintergrund

Kältetod: Der menschliche Körper kann nicht unbegrenzt die Körpertemperatur konstant bei 37 Grad halten. Hält man sich länger in eisiger Kälte auf, kann der Wärmeverlust irgendwann so groß sein, dass die Körpertemperatur unter 35 Grad sinkt. Dann spricht man von einer Unterkühlung. Sinkt die Körpertemperatur unter 28 bis 26 Grad, kommt es zur Atemlähmung und zu Herzrhythmusstörungen, was zum Tod führen kann. Besonders gefährdet sind Personen, die zu viel Alkohol getrunken haben, und kleine Kinder. Feuchtigkeit und Wind begünstigen die Auskühlung des Körpers. Quelle: Institut für Rechtsmedizin Leipzig (wie)

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