"Gesellschaft muss sich auf den Weg machen"

Prüm · Für Eltern geistig oder körperlich behinderter Kinder gilt vom Sommer an freie Schulwahl. Ein Abend zum Thema - Schlagwort Inklusion - in der Prümer Realschule plus und die Diskussion darüber zeigen, dass dazu aber noch etliche Hürden zu nehmen sind. Denn es fehlt an vielem - von Akzeptanz bis Ausstattung.

Prüm. Den Vortrag zur Inklusion, den der Leiter der Astrid-Lindgren-Förderschule Guido Kirsch in der Kaiser-Lothar-Realschule Plus hält, wollen rund 50 Besucher hören. In der Mehrzahl sind es Lehrer - nur wenige Eltern sind gekommen, um sich über die Entwicklung zu informieren, die laut Kirsch "das bisherige Schulsystem vor massive Herausforderungen stellt und es verändern wird". Wie hoch die Hürden zur Inklusion noch sind, das zeigen auch die Aussagen betroffener Eltern, die namentlich l nicht genannt werden wollen: "Unsere Kinder nehmen nur zu einem geringen Teil am Regelunterricht teil", sagt die Mutter eines Realschulkinds. "Alle zwölf Kinder mit Handycap sind in den berufsbildenden Zweig eingegliedert." Für den Übergang an die weiterführende Berufsschule fehle aber weiterhin ein Konzept. "Die Lehrer werden weitestgehend sich selbst überlassen", sagt eine weitere Mutter. "Dadurch entsteht Frustration bei Lehrern, Eltern und Schülern." Ihrer Meinung nach ist auch eine speziell behindertengerechte Ausstattung der Schule nicht alles, was zählt: "Was bringt ein Aufzug, wenn die Lehrer mit der Situation überfordert sind?" Andere Eltern fürchten um die Schulbildung ihrer Kinder: "Wie soll ein regulärer Unterricht stattfinden, wenn geistig behinderte Kinder mit nicht behinderten Schülern gemeinsam unterrichtet werden?", sagt eine Frau, als der offizielle Teil vorüber ist.Trotzdem: Behinderte und nichtbehinderte Kinder sollen gemeinsam zur Schule gehen dürfen. So verlangt es die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die Deutschland 2009 unterzeichnet hat. Als Vorbereitung zu dieser Schulnovelle ist in den vergangenen Jahren ein Netz sogenannter Schwerpunktschulen entstanden. In Prüm sind die Bertrada-Grundschule seit 2006 und die Kaiser-Lothar-Realschule plus seit 2008 die Einrichtungen, die integrativen Unterricht anbieten. An der Prümer Grundschule nehmen zurzeit 17 Kinder mit Behinderungen verschiedenster Art daran teil, in der Realschule plus sind es zwölf. "Förderschulen bleiben auch nach dem Gesetz zur Inklusion weiterhin bestehen", sagt Kirsch. Von diesem Sommer an müsse aber jede Schule Förderkinder aufnehmen. Einwände, dass für behinderte Kinder keine nötige Einrichtung wie etwa Fahrstühle, Toiletten oder Schulmöbel vorhanden seien, würden dann nicht mehr gelten. Kirsch, ein entschiedener Befürworter der Inklusion, "wenn sie sorgfältig und mit Bedacht durchgeführt wird", bezeichnet das Thema als "Minenfeld". Und es dauert nicht lange, bis auf Aussagen, wie "jedes Kind ist ein Förderkind - damit ist jeder Lehrer ein Förderlehrer" Widerspruch auch aus den Reihen der anwesenden Pädagogen kommt. "Ich habe einen Lehrplan, den ich einhalten soll", wirft eine Lehrerin der Realschule ein. "Wir haben einen Auftrag", sagt eine weitere. "Dabei geht es darum, Kinder auf den Wettbewerb im Arbeitsleben vorzubereiten."Deutschland weit hinten

Auch die Frage, ob mit der Inklusion und damit dem Recht geistig und körperlich behinderter Kinder auf gemeinsamen Unterricht nicht ein seit Jahren bewährtes System verlassen werde, kommt auf. "Das deutsche Schulsystem ist im Vergleich erfolgreich", erwidert Kirsch. "Doch in Sachen Inklusion hinken wir anderen Ländern weit hinterher." Er sieht immer noch eine Blockade und eine Resistenz etlicher Kollegen gegen den Inklusionsgedanken. "Dabei ist das ja kein Damoklesschwert, das plötzlich auf die Köpfe der Regelschullehrer herabsaust." In etlichen Gesprächen und Gesamtkonferenzen sei das Thema erörtert worden. "Wir müssen Ressourcen in die Hand nehmen und auf jedes einzelne Kind eingehen", sagt Kirsch. An der Bertrada-Grundschule Prüm haben Lehrer, Eltern und Schüler gute Erfahrungen mit dem gemeinsamen Unterricht gemacht. "Wir haben in den Jahren verschiedene Modelle ausprobiert", sagt Schulleiter Arnold Gierten. Er glaubt, dass jede Schule ihr eigenes Konzept finden muss. "Natürlich steht dabei die Einstellung und die Motivation jedes einzelnen Lehrers im Vordergrund - doch auch die nötigen Ressourcen müssen vorhanden sein." Grundschule und Astrid-Lindgren-Förderschule arbeiten seit Jahren eng zusammen. "Die Gesellschaft muss sich endlich auf den Weg machen", sagen Kirsch und Gierten, "damit es normal wird, verschieden zu sein".Meinung

Gutes Recht, schlechte RealitätDass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen nicht aus der Regelschule ausgeschlossen werden sollen, ist ein wichtiger Gedanke - und sollte längst Normalität sein. Leider aber bleibt die Inklusion vielerorts nur schicke Behauptung: Wer ein solches Gesetz unterschreibt, darf nämlich Schulen, Eltern und vor allem die Kinder danach nicht allein lassen. Es fehlt an Ausstattung, an Personal - und, auch das ist Realität, bei vielen Beteiligten noch an der Akzeptanz: Das zeigen Gespräche mit betroffenen Eltern immer wieder. Deren Kinder sind zusätzlich zu ihrer Beeinträchtigung auch noch allerlei Hänseleien und anderen Bösartigkeiten ausgesetzt. Es gibt sogar Eltern, die ihre Sprösslinge nicht mit "denen" in einer Klasse sehen wollen. Solange sich das nicht ändert, bleibt Inklusion nur ein wohlklingendes Fremdwort. f.linden@volksfreund.deExtra

In Rheinland-Pfalz gibt es 150 Schwerpunkt-Grundschulen und 112 weiterführende Einrichtungen, die Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichten. Dadurch sowie durch Einzelintegrationshilfen in anderen Regelschulen wurden im vergangenen Jahr rund 4900 Kinder und Jugendliche inklusiv unterrichtet - etwa ein Viertel aller Schüler mit Förderbedarf. Rund 14 800 Schüler mit Behinderungen wurden in den 138 Förderschulen unterrichtet - eine Quote von rund 3,8 Prozent aller Schüler. now

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort