Interview „Den meisten Frauen ist so was schon passiert“

Trier · Die Bundesfamilienministerin fordert von der Politik, dass sie Opfer sexueller Gewalt ernst nimmt. Flirten an Karneval sei in Ordnung.

() Die meisten Frauen seien schon sexuell belästigt worden, sagt die geschäftsführende Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD). Im Interview mit unserer Zeitung spricht sie über den Fall Wedel, über die Bedeutung der #MeeToo-Kampagne und die Konsequenzen, die die Politik aus der aktuellen Diskussion ziehen muss. Die 49-jährige Schweicherin spricht auch übers Flirten an Karneval und die Grenzen zur sexuellen Belästigung. Die Fragen stellte TV-Redakteur Bernd Wientjes.

Frau Barley, überrascht Sie, wie intensiv derzeit in Deutschland über sexuelle Gewalt gesprochen wird? Warum erst jetzt?

KATARINA BARLEY Nein, das überrascht mich ganz und gar nicht. In anderen Ländern haben wir darüber schon intensive Debatten, in Schweden beispielsweise Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern. In Deutschland haben wir etwas länger gebraucht, was sicherlich auch an der bei uns vorherrschenden Debattenkultur liegt. Aber ich bin mir sicher, dass ein prominenter Fall auch hier einiges ins Rollen bringen kann.

Wie bewerten Sie die Vorwürfe gegen den Regisseur Dieter Wedel? Ist das nur die Spitze des Eisbergs?

BARLEY Die Unschuldsvermutung gilt natürlich auch in diesem Fall. Aber wenn sich die Anschuldigungen bestätigen, ist das ein massiver Skandal, zumal ja offenbar sehr viele Menschen davon gewusst haben. Ich habe bereits deutlich gemacht, dass ich hier eine rückhaltlose Aufklärung von den beteiligten Firmen und Institutionen fordere – allen voran den öffentlich-rechtlichen Sendern.

Halten Sie es für möglich, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen im Film- und Showgeschäft verbreitet ist, wie auch das Beispiel USA zeigt?

BARLEY Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das sich vor allem da zeigt, wo Abhängigkeiten und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern stark verbreitet sind. In der Filmbranche sind solche ungleich verteilten Geschlechterrollen besonders stark ausgeprägt.

Begrüßen Sie als Frauenministerin, dass nun auch durch die #metoo-Kampagne verstärkt über das Thema gesprochen wird? Werden dadurch Frauen ermutigt, Ihr Schweigen zu brechen?

BARLEY Ja, selbstverständlich. Mut braucht Vorbilder. Wenn sich jetzt viele Frauen trauen, öffentlich über Übergriffe und Sexismus zu sprechen, kann das wirklich etwas verändern. Es ist ein Zeichen: Gewalt und Sexismus werden nicht stillschweigend hingenommen.

Wie verbreitet ist sexuelle Belästigung in Deutschland? Auch in der Politik? Zu Beginn der Kampagne sagten Sie:  Auch bei offiziellen Fototerminen gebe es „schon den einen oder anderen, der bei der Umarmung oder wenn man eng beieinander steht, seine Hand mal länger auf der Taille lässt oder fester zugreift“. Das heißt, auch Sie erleben sexuelle Belästigung?

BARLEY Den meisten Frauen ist so etwas schon passiert. Wenn ich auf mein Berufsleben zurückschaue, bin ich da keine Ausnahme.

Was raten Sie betroffenen Frauen?

BARLEY Jede Frau entscheidet selbst, wie sie damit umgeht. Ich würde keiner Frau einen Vorwurf machen, wenn sie in ihrer Situation einen Fall nicht melden konnte oder wollte. Ich kann mir nur wünschen, dass viele Frauen den Mut haben, klarzumachen, wenn eine Grenze überschritten wird oder wurde. Und das im Zweifel auch öffentlich. Täter müssen merken, dass ihr Verhalten Konsequenzen hat.

Karneval steht vor der Tür. Sie als Karnevalsfan wissen, dass dort gerne und häufig geflirtet wird. Müssen nun Männer befürchten, dass jeder vielleicht harmlos gedachte Flirt als sexuelle Belästigung missverstanden werden kann? Anders gefragt: Verändert womöglich die Kampagne und die aktuelle Diskussion das Verhältnis zwischen Männern und Frauen? Stehen Männer unter Generalverdacht?

BARLEY Nein. Es ist wirklich nicht schwer, zwischen einem Flirt und einer Belästigung zu unterscheiden. Ich weigere mich auch, diesen gefährlichen Dreh in der Diskussion zu akzeptieren. Auf einmal werden Männer als Opfer stilisiert, denen Frauen vorschreiben wollen, wie sie sich zu verhalten haben. Und ja, ich hoffe, dass die aktuelle Diskussion dazu beiträgt, dass in unserer Gesellschaft stärker über ein respektvolles Miteinander und vorhandene Machtstrukturen gesprochen wird.

Wie reagiert die Politik auf die aktuelle Diskussion und die bekannt gewordenen Vorwürfe? Welche Konsequenzen müssen gezogen werden?

BARLEY Die Politik muss Teil dieser Diskussion sein. Wir Politikerinnen und Politiker müssen klarmachen, dass wir die betroffenen Frauen ernst nehmen und zuhören. Und wir müssen uns verpflichten, alle Machtstrukturen zu beseitigen, die Frauen noch immer benachteiligen. Das beginnt bei Themen wie der unfairen Bezahlung von Frauen und Männern oder dem geringen Anteil von weiblichen Führungskräften in den Aufsichtsräten und Vorständen.

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