Ein Fest für Augen und Fantasie

Trier · Eine musikalisch wie szenisch ungewöhnliche Tanzinterpretation von Schuberts Liederzyklus "Die Winterreise" bringt das Theater Trier auf die Bühne. Das Publikum ließ sich bei der Premiere am Samstag von den faszinierenden Bildern begeistern.

Trier. Schuberts "Winterreise": Das ist ein Abschied in 24 kurzen Episoden, die Geschichte einer Vereinsamung bis hin zum Tod, hochromantisch, hochdepressiv, zum Weinen schön. Erzählkino, konzentriert auf eine Stimme und ein Klavier. Muss man daraus Theater machen?
Sven Grützmachers Trierer Tanzversion ist ein Plädoyer für diese Möglichkeit. Das hat sehr viel mit der musikalischen Orchesterfassung von Hans Zender zu tun, die den musikalischen Grundgehalt von Schubert bewahrt, ihn aber mit lautmalerischen Fußnoten und Kommentaren versieht.
Die Singstimme bleibt weitgehend unangetastet, und wo gesungen wird, stellt sich das von Joongbae Jee vorzüglich geführte und bestens disponierte Orchester ganz in den Dienst des Wortes. Aber in den Vor-, Nach- und Zwischenspielen wird kraftvoll und differenziert illustriert, kommen rhythmische Brüche ins Spiel, entsteht der Spielraum, den Grützmacher für seine Tänzer braucht.
Nacherzählende Handlungsballette waren seine Sache ohnehin nie, aber diesmal ist er besonders weit entfernt davon, die Texte und Situationen zu illustrieren. Im Gegenteil: Er verweigert konsequent, das zu zeigen, was man erwartet. Je getragener die Musik, um so heftiger die Bewegungsabläufe - was gelegentlich die Grenze zum Aktionismus touchiert. Grützmacher visualisiert Gefühle wie etwa die Unfähigkeit von Menschen, sich nahe zu kommen - und kommt seinerseits damit Schubert letztlich doch wieder beängstigend nahe.
Große Momente der Ruhe


Die großen, bewegenden Momente sind die, in denen alles zur Ruhe kommt, die Handlung einfriert zu unglaublich starken Bildern. Grützmacher, das Multitalent, ist diesmal auch noch sein eigener Bühnenbildner, und das zahlt sich aus. Ein surreales Ambiente mit schwebenden Treppen, in der Luft hängenden Zimmern, abstrakten Türen und Fenstern, grandiosen Spielen mit Licht, Schatten und Spiegelbildern, stimmungsvollen Videoprojektionen (von Bodo Korsig): Das ist ein Fest für Augen und Fantasie, so wie die Kostüme von Gera Graf, mal opulent, mal schräg, wunderbar überraschend und unberechenbar.
Das Bewegungsrepertoire der Tänzer ist im achten Jahr der Ära Grützmacher nicht mehr ganz so überraschend. Aber es fasziniert, wie sich das Ensemble ins Zeug legt, arbeitet, kämpft, dem Geschehen Leben einhaucht. Eine große Teamleistung, bei der Neuling Andres de Blust-Mom maerts, Natalia Grützmacher, Christin Braband und Juliane Hlawati besonders auf sich aufmerksam machen (Ensemble: Susanne Wessel, Noala de Aquino, René Klötzer, Alister Noblet, Cecile Rouverot, Ayumi Noblet, Dennis Burda, Robert Seipelt).
Der Held des Abends zum Schluss: Der junge Tenor Christian Sturm wandert als Erzähler und Akteur mit außerordentlicher Bühnenpräsenz durch die Handlung, ein Mensch zwischen Lebenswillen und -überdruss, glaubhaft, intensiv. Eine in allen Lagen gut ansprechende, elegant geführte Stimme, die - wie der Darsteller selbst - trotz der enormen Belastung, eineinhalb Stunden ohne Pause im Einsatz zu sein, nie angestrengt oder ermüdet wirkt. Starke Leistung.
Am Ende ausgiebiger Beifall des Publikums, Ovationen für den Sänger, das Orchester und das Regieteam.
Vorstellungen: 19., 26., 29. Oktober; 6., 29. November; 7. Dezember; 4. und 17. Januar. Karten: Theaterkasse, Telefon 0651/7181818, www.theater-trier.de

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