Hunsrückstadt im Heimat-Fieber

Der Film "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht" des Regisseurs Edgar Reitz ist am Samstag bei der Deutschlandpremiere in Simmern im Hunsrück bejubelt worden. Und im Hunsrück, der Gegend, aus der der 80-jährige Reitz stammt, spielt der Film auch - wie zuvor schon die Heimat-Trilogie.

Simmern. Edgar Reitz blickt vom Balkon des Pro-Winzkinos auf die Schar der Premierengäste herab und strahlt. Nach den Aufführungen seines Kinofilms "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht" in Venedig und Toronto sei die Deutschlandpremiere für ihn eine besondere Angelegenheit, bekennt Reitz.Ein besonderer Tag


Der Ehrenbürger von Simmern (Rhein-Hunsrück-Kreis), gebürtig aus Morbach (Kreis Bernkastel-Wittlich), erklärt: "Jedes zweite Gesicht, das ich jetzt sehe, hat mit dem Film etwas zu tun."
,"Es ist ein besonderer Tag", sagt Stadtbürgermeister Andreas Nikolay. Großereignisse wie diese seien in Simmern - wie im Hunsrück insgesamt - rar. Für das Premierenfest ist Simmern gewappnet. Ein roter Teppich ist vor der Hunsrückhalle ausgerollt, in der zwei der vier Vorführungen stattfinden. Für Gäste gibt es Sekt, Würste aus Wild, Hunsrücker Kartoffeln und ein buntes Rahmenprogramm. Anderswo mag es glamouröser zugehen, in Simmern ist es beschaulich und familiär.
Der Filmemacher mit Schirmmütze und Sonnenbrille beantwortet zahllose Fragen von Journalisten und gibt Autogramme. Immer wieder begrüßt er Bekannte. "Wir sind während der Dreharbeiten zu einer richtigen Filmfamilie zusammengewachsen", sagt Eva Zeidler. Sie spielt die Großmutter der ungleichen Brüder Jakob und Gustav, die im Fokus des Kinofilms stehen. "Es ist eine Konstellation, die wir aus Märchen kennen", sagt Reitz, allerdings in ein "bitterarmes Deutschland" der 1840er Jahre versetzt. Thema ist die Auswanderungswelle im Hunsrück in dieser Zeit.
Heute ist das Thema aktueller den je. Viele Brasilianer suchen inzwischen nach ihren Wurzeln im Hunsrück. Am Premierentag wurde in diesem Zusammenhang eine Städtepartnerschaft von Simmern mit der brasilianischen Stadt Igrejinha geschlossen.
Und immer wieder stößt man in der Simmerner Fußgängerzone auf Mitglieder der Reitz\'schen "Filmfamilie". Zum Beispiel auf die Theaterpädagogin Kathy Becker aus Herrstein, die - zunächst als Komparsin vorgesehen - die Rolle einer Nachbarin und Wirtsfrau übernahm. Die war im Drehbuch gar nicht vorgesehen gewesen. Kathy Becker freut sich auf das Wiedersehen mit Kollegen.Lohnendes Rahmenprogramm


Das geht Hauptdarsteller Jan Dieter Schneider aus dem nahegelegenen Kastellaun ebenso. "Aber ich hatte vor lauter Presseanfragen noch gar keine Zeit, sie zu begrüßen", sagt der Medizinstudent und Laiendarsteller.
Auch das Rahmenprogramm lohnt sich. Im Hunsrück-Museum wird eine neue Ausstellung zu "Die andere Heimat" eröffnet. Ein spezielles Heimat-Roggenbrot wird verkauft, ein Indiz für die Liebe zum historischen Detail des 80-jährigen Filmemachers. Das Getreide für das Brot stammt von einem mannshohen Roggenfeld, wie es sie früher gab. Es musste eigens für eine Filmszene angelegt werden.
Das Premierenpublikum ist begeistert. Wolfgang Fink aus Morbach spricht von einem "beeindruckenden Dokument des Zeitgeschehens" und lobt die "hervorragenden schauspielerischen Leistungen", während Stefan Gies aus Kettig den Film ein "Meisterwerk" nennt. Für Frank Arend aus Hoxel ist der Film "ein Muss für jeden Hunsrücker", während Andreas Hackethal "völlig in eine andere Welt eingetaucht" war. Der Bürgermeister von Morbach freut sich im Zusammenhang mit Edgar Reitz auf eine weitere Premiere, die Eröffnung des Café Heimat im Elternhaus des Künstlers in Morbach am Sonntag, 6. Oktober, 14 Uhr. Um 18 Uhr ist die offizielle Vorpremiere des Dokumentarfilms "Making of Heimat", ein Projekt, das die Entstehungsgeschichte des Films zeigt.
Im Pro-Winzkino läuft "Die andere Heimat" ab sofort. Ansonsten kommt der Streifen am 3. Oktober in die deutschen Kinos.

Weitere Infos unter
www.heimat123.de
www.heimat-fanpage.de
www.pro-winzkino.deExtra

Der Filmemacher, Autor und Produzent Edgar Reitz, geboren 1932 im Hunsrück, ist wie Alexander Kluge einer der Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests. 1962 haben darin zahlreiche Jungfilmer ein neues deutsches Kino abseits des "Konfektionsfilms" gefordert. Das ist die Geburtsstunde des deutschen Autorenfilms, den Reitz entscheidend mitprägt. Eine der ersten Auszeichnungen erhält er 1967 auf dem Filmfestival in Venedig für den Film "Mahlzeiten" über die Geschichte einer Ehe und ihres Scheiterns. Er bekommt einen Preis für das beste Erstlingswerk. Inspiriert von einer tatsächlichen Reise seiner Mutter dreht Reitz mit Hannelore Elsner, Elke Sommer und Mario Adorf Anfang der 1970er Jahre die Sittenkomödie "Die Reise nach Wien". Den Adolf-Grimme-Preis erhält Reitz 1978 für "Die Stunde Null". Filmgeschichte schreibt er mit der Heimat-Trilogie, die sich aus 31 abendfüllenden Einzelfilmen zu einem Jahrhundertepos über die Hunsrücker Familie Simon aus Schabbach zusammensetzt. Es gehört mit 56 Stunden Spieldauer zu den umfangreichsten Werken der Filmgeschichte. Nach drei Jahren Vorbereitung knüpft Reitz an die Trilogie an und dreht im Hunsrück "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht", eine deutsch-französische Kino-Co-Produktion. iro

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