Tannhäusers Urenkel

Sie kommen aus zwei entgegengesetzten Winkeln der Dicht-Kultur: Die alternativen "Poetry-Slammer" von heute und die "Klassiker" von Goethe bis Heine. Das Theater Trier als Heimstatt der Hochkultur und die "Produktion am Dom" als Treffpunkt der Subkultur versuchen, die beiden entfernten Welten in Wettstreit-Form zusammenzubringen.

 Bringt Goethe auf Platz Eins: Schauspieler Tim Olrik Stöneberg. Foto: Theater Trier/Jörg Halstein

Bringt Goethe auf Platz Eins: Schauspieler Tim Olrik Stöneberg. Foto: Theater Trier/Jörg Halstein

Trier. Wenn Intendant Gerhard Weber (58) das Publikum bei Veranstaltungen im Theaterfoyer begrüßt, ist er in der Regel der Benjamin unter den Anwesenden. Es muss für ihn ein ungewohntes, aber durchaus erwünschtes Gefühl sein, an diesem Winter-Abend kurz vor Mitternacht den Altersschnitt seiner Besucher locker um 30 Jahre zu überbieten.

Wäre jetzt das sonntägliche Theater-Café, dann müsste er den Anwesenden wohl umfassend erklären, um was es eigentlich geht. "Poetry Slam Dead or alive" lautet die Devise. "Poetry Slam" ist eine der populärsten Formen der zeitgenössischen Jugendkultur: ein nach präzisen Regeln ausgetragener Dichter-Wettstreit, bei dem am Ende ein Sieger gekürt wird. Einst fand sowas auf der Wartburg statt, Richard Wagner hat sogar eine Oper darüber geschrieben. Heute ist die "Produktion am Dom" das Trierer Domizil der Slammer, die längst ihr Publikum erobert haben und deren "Stars" bundesweit von Wettkampf zu Wettkampf ziehen.

Der seit Jahren dahindämmernden Kunstform "Lyrik", die zuletzt mit unsäglichen Jammer-Gedichten in den friedensbewegten 80ern ein Konjunktur-Hoch verzeichnete, haben die Poetry-Slams zu neuem Publikum verholfen. Da bietet es sich an, die frechen jungen Herausforderer und die alten Dichter-Platzhirsche gemeinsam auf eine Bühne zu bringen. "Dead or alive", der Club der toten Dichter gegen seine ambitionierten Nachfolger, darum geht es im nächtlichen Theaterfoyer. Schauspieler aus dem Theater-Ensemble wetteifern mit ausgewählten Gedichten verblichener Autoren gegen die Eigenprodukte der jungen Wilden aus der Slammer-Szene.

Das Publikum entscheidet über die Platzierung



Seit dem Herbst erprobt man die neue Veranstaltungsform. Im Wechsel kommen jeweils vier tote und lebende Dichter auf die Bühne, ausgestattet mit ein paar Minuten Zeit, um das Publikum auf ihre Seite zu ziehen. Per Abstimmung werden zwei Finalisten aus beiden Lagern gekürt, die dann in der zweiten Runde den Sieg unter sich ausmachen.

Die Konstellation ist nicht zwangsläufig günstig für die verstorbenen Dichter-Helden. Bei der Premiere siegte eine junge Literatin aus Bonn, gefolgt von Komiker Heinz Erhardt, der bei der "Klassik"-Fraktion Rilke und Villon mal locker abhängte.

Und auch bei der zweiten Auflage haben es die toten Dichter nicht eben leicht. Charles Baudelaires radikales Plädoyer für den Rausch bleibt bei der Abstimmung weit hinter Schüler-Betroffenheitslyrik aus Wittlich zurück. Heinrich Heine hat keine Chance gegen eine unterhaltsame Comedy-Satire übers Nachbarländchen Luxemburg.

Aber an der Spitze wird es dann doch eng. Der von Schauspielerin Antje Härle vorgetragene Bibel-Psalm "Jegliches hat seine Zeit", betagteren Mitbürgern noch in der Adaption durch die "Puhdys" als Titelsong des DDR-Kult-Films "Die Legende von Paul und Paula" bekannt, scheitert nur knapp, ebenso wie die kuriosen Kurz-Geschichten des Bielefelder Slammers Micha-El Göhre.

Am Ende erkämpft Tim Olrik Stöneberg mit massivem mimischen Einsatz - bisweilen wirkt er wie Jack Nicholson in "Shining" - ein Unentschieden für Goethes "Zauberlehrling" gegen den originellen, sprachgewandten Berliner Rap- und Slam-Künstler "Gauner". Nicht direkt schmeichelhaft für den Geheimrat, aber doch unterm Strich salomonisch - und mit reichlich Beifall quittiert.

Den hat die ganze "Dead or alive"-Idee redlich verdient, auch wenn eine leicht konfuse Moderation und das arg lässige Handhaben der Abstimmungsmodalitäten den guten Gesamteindruck etwas trüben. Eine Fortsetzung ist für März geplant - und die Klassik-Anhänger haben es dann in der Hand, durch fleißigen Besuch das Abschneiden "ihrer" Geistesgrößen aufzubessern.

EXTRA

Der amerikanische Künstler Marc Kelly Smith aus Chicago gilt als Erfinder des Poetry Slam. Er wollte eine Alternative zu den üblichen Lesungen bieten. Ab 1984 entwickelte er den Poetry Slam als eigene Veranstaltung. Premiere war am 20. Juli 1986 in dem Chicagoer Jazzclub "Greenmill". Dort findet auch heute noch der Slam statt. Schon im selben Jahr schwappte die Welle auf Deutschland über. Ein erster Slam war 1986 in Frankfurt. Im vergangenen Jahr waren die deutschsprachigen Meisterschaften in Zürich. Sieger war "Sebastian 23" aus Bochum im Einzel. Im Team siegte das "TeamLSD" (Micha Ebeling, Volker Strübing). (hpl)

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