Analphabetismus Nur Mut!

TRIER · Die Mitglieder der Gruppe Wortsalat aus Trier waren funktionale Analphabeten und schreiben heute Geschichten und Gedichte. Zudem wollen sie andere Betroffene aufrütteln und die Öffentlichkeit für ihr Problem sensibilisieren.

 Zum offiziellen Startschuss des neuen Projekts „Knotenpunkte der Grundbildung“ in Trier präsentierte sich die Gruppe Wortsalat mit einem Stand in der Stadtbibliothek Walderdorff. Kerstin H., Susanne Barth vom Bildungs- und Medienzentrum der Stadt, Kerstin G. und Yvonne (von links) stellten unter anderem den ersten Band mit selbst geschriebenen Geschichten und Gedichten vor.

Zum offiziellen Startschuss des neuen Projekts „Knotenpunkte der Grundbildung“ in Trier präsentierte sich die Gruppe Wortsalat mit einem Stand in der Stadtbibliothek Walderdorff. Kerstin H., Susanne Barth vom Bildungs- und Medienzentrum der Stadt, Kerstin G. und Yvonne (von links) stellten unter anderem den ersten Band mit selbst geschriebenen Geschichten und Gedichten vor.

Foto: TV/Björn Pazen

10 000 Menschen in Trier können entweder gar nicht lesen und schreiben oder haben erhebliche Lese-Rechtschreibprobleme. Zu diesen gehörten auch Kerstin G., Kerstin H. und Yvonne. Es brauchte viel Überwindung, bis sie ihr Problem angegangen sind. „Ich habe mich geschämt. Alle Menschen, die nicht lesen oder schreiben können, schämen sich dafür“, sagt Kerstin G. Irgendwann hat sie ihren Mut zusammengenommen und ist zu einem Kurs der Volkshochschule gegangen, später hatte sie einen Lernpaten an ihrer Seite, um lesen und schreiben zu lernen. „Ich hatte mich lange Zeit nicht getraut, diese Hilfe anzunehmen“, sagt sie heute: „Diese Phase hat jeder von uns mal durchgemacht, heute gehen wir offen mit unserem Problem um.“

Auch Kerstin H. hatte diese Phase durchgemacht, bei ihr kommt noch eine Epilepsie dazu. „Ich habe einen Volkshochschulkurs gesucht, bei dem ich mein Hirn anstrengen musste. Da ich auch nicht gut lesen und schreiben konnte, habe ich den Kurs Deutsch für Deutsche ausgewählt.“

Im August 2016 lernten sich Kerstin H., Kerstin G. und Yvonne kennen. Mit zwei weiteren Lernern gründeten sie eine Selbsthilfegruppe, einige Monate später hatten sich auch den passenden Namen gefunden: Wortsalat, ihr Motto lautet „Mitmachen, mitreden, gemeinsam mehr erreichen“.

Alle wollen auf das Schicksal der funktionalen Analphabeten in Trier aufmerksam machen, haben aber auch mittlerweile einen solchen Spaß an der Sprache gefunden, dass sie eigene Texte und Gedichte schreiben. Dank des Projekts APAG und durch die Unterstützung von Susanne Barth und Katja Krämer-Kupka vom Bildungs- und Medienzentrum der Stadt Trier haben sie nicht nur lesen und schreiben gelernt, sondern im Juni beim Lesefestival „StadtLesen“ in Trier auch den ersten Band mit selbst verfassten Texten präsentiert. Es geht um ihr Verhältnis zu Wörtern und Buchstaben, es gibt Kurzgeschichten, Gedichte und Erzählungen.

Die Wortsalat-Mitglieder haben zudem Medientrainings absolviert, waren mit ihrem Infostand bei mehreren Veranstaltungen oder beim Treffen von Trierer Selbsthilfegruppen oder anderen Alphabetisierungsgruppen, gaben Interviews. „Nur Mut“ steht auf ihren T-Shirts – und das ist wörtlich gemeint: „Wir gehen auf die Betroffenen zu, wir helfen ihnen, wir gehen, wenn sie wollen, auch mit ihnen in die Kurse, um die Scheu zu überwinden. Wir haben keine Hemmungen mehr und wollen auch anderen Menschen zeigen, dass sie sich nicht schämen müssen, wenn sie nicht lesen oder schreiben können“, sagt Kerstin G., die das Wort „outen“ nicht mag, aber gleichzeitig sagt: „Wir gehen offen mit unserem Problem um. Wir wollen zeigen, dass man nicht automatisch dumm ist, wenn man nicht lesen und schreiben kann. Wir wollen zeigen, dass man das Problem lösen kann, und wir wollen der Gesellschaft zeigen, dass wir mehr können als viele denken.“

Für Kerstin H. ist zudem wichtig, „dass die Kurse jetzt kostenlos sind. Das war früher vielleicht auch eine Hemmschwelle.“

Die Gruppe Wortsalat hat eine Postkarte und einen Flyer erstellt, um auf sich und das Thema An­alphabetismus aufmerksam zu machen. Natürlich arbeiten sie auch viel mit Mund-zu-Mund-Propaganda. Die Zahl von 10 000 Betroffenen alleine in Trier und 7,5 Millionen in ganz Deutschland klingt auf den ersten Blick sehr viel, das heißt aber nicht, dass diese Menschen überhaupt nicht lesen können: „Viele können Buchstaben und ganze Wörter lesen, aber sie verstehen selbst kurze Texte nicht“, sagt Susanne Barth vom APAG-Projekt.

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