Das vorläufige Ende eines Schwebezustands

Washington · Barack Obamas Abschiebestopp ist ein Provisorium, es ersetzt keine Einwanderungsreform, aber es entschärft rund vier Millionen humanitäre Härtefälle in den USA.

Washington. Astrid Silva war vier, als ihre Eltern über die Grenze aus Mexiko kamen, um in den USA ihr Glück zu versuchen. An ihrem ersten Schultag sprach sie kaum ein Wort Englisch, sie holte auf, indem sie Zeitung las und den Nachrichtensprechern des Fernsehens an den Lippen hing. Heute studiert sie an einem College, während ihr Vater César, ein Gärtner, Anwälte einschalten muss, um sich gegen seine Abschiebung zu wehren. Astrids Bruder, in Las Vegas geboren, hat als amerikanischer Staatsbürger nichts zu befürchten, während sie selber schweren Herzens darauf verzichtete, zur Beisetzung ihrer Großmutter nach Mexiko zu fahren. Bei der Passkontrolle wäre sie aufgeflogen, ihre Rückkehr nur mit Hilfe von Schlepperbanden möglich gewesen.
Der Fall ist typisch, weshalb Barack Obama Astrid Silva zu einer Art Kronzeugin macht - und ihre Familie zum Paradebeispiel dafür, welch bizarre Blüten das Einwanderungsrecht treibt. Am Freitag flog der Präsident nach Las Vegas, um sich im hispanischen Ambiente der Del Sol High School feiern zu lassen für Korrekturen, die er am Abend zuvor im Weißen Haus skizziert hatte. Seine Rede klang kämpferisch: "Sind wir eine Nation, welche die Scheinheiligkeit eines Systems toleriert, bei dem die Arbeiter, die unser Obst pflücken und unsere Betten machen, nie eine Chance erhalten, sich mit dem Recht auszusöhnen?" "Sind wir eine Nation, die es akzeptiert, dass Kinder den Armen ihrer Eltern entrissen werden?" Mit solchen Sätzen bringt es der Präsident auf den Punkt, das Dilemma des endlosen Schwebezustands.Elf Millionen Illegale


Im Durchschnitt leben die rund elf Millionen illegalen Immigranten, die meisten aus Mexiko, El Salvador, Honduras und Guatemala, bereits seit 13 Jahren in den Vereinigten Staaten. Viele haben Familien gegründet, als billige Dachdecker und Klempner, Putzfrauen und Kindermädchen sind sie kaum wegzudenken aus dem Alltag der Mittelschicht. Sie alle zu deportieren, sagt Obama, sei weder realistisch, noch entspreche es dem Charakter Amerikas.
Per Dekret holt das Weiße Haus schätzungsweise vier Millionen Migranten aus der Grauzone, verfügt einen Abschiebestopp für Eltern von Kindern, die entweder US-Staatsbürger sind oder eine Aufenthaltserlaubnis besitzen - vorausgesetzt, die Eltern sind seit mindestens fünf Jahren im Land. Sie sollen aus dem Schatten treten, sich registrieren lassen, Steuern zahlen, und sofern sie eine polizeiliche Überprüfung bestehen, dürfen sie bleiben.
Die Regelung ebnet weder den Weg zur Staatsbürgerschaft, noch begründet sie einen Daueraufenthalt. Es geht darum, Härtefälle zu vermeiden. Dass der Schritt rechtens ist, lässt sich das Oval Office per Brief von zehn Verfassungsrechtlern bestätigen.Polemische Republikaner


Damit versucht es, der Polemik der Republikaner die Spitze zu nehmen. "Kaiser Obama", stichelt John Boehner, der Sprecher des Repräsentantenhauses. Worauf der Adressat erwidert, die Konservativen hätten genug Zeit gehabt, um die überfällige Einwanderungsreform zu verabschieden. Eine Novelle liegt seit 17 Monaten in den Schubladen des Senats. Bei aller Emotionalität: Es ist Kalkül, das Obamas Weichenstellung bestimmt. Wird 2016 sein Nachfolger gewählt, bilden die Hispanics das Zünglein an der Waage, so wie 2012, als sie zu 71 Prozent für Obama gestimmt und in umkämpften Bundesstaaten wie Colorado, Florida, Nevada und Virginia das Duell gegen Mitt Romney zu seinen Gunsten entschieden. In zwei Jahren hoffen die Demokraten auf eine Wiederholung.

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