Demokratisches Dilemma

Was tun? Schweigen und versuchen, die primitive Provokation der Rechtsextremen zu ignorieren? Das geht nicht, denn gerade das beschämende Schweigen und Wegschauen hat Auschwitz erst möglich gemacht. Jammern und Klagen über die Abgründe dieser Welt?

Eine durchaus menschliche Reaktion, aber wem sollte sie nutzen? Das Dilemma ist offensichtlich: Da man Gedankengut, und sei es noch so abscheulich, schwerlich verbieten oder bestrafen kann, bliebe bloß die "politische Auseinandersetzung". Das ist die schwierigste Variante, und doch ist sie in der Demokratie ohne wirkliche Alternative. Der Name Auschwitz ist das Synonym für das barbarischste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Die Nazis haben aus diesem Ort den größten Friedhof der Welt gemacht. Damit nicht in Vergessenheit gerät, warum das Unfassbare geschehen konnte, damit alles Menschenmögliche getan wird, um ähnliches Grauen für alle Zukunft auszuschließen, wird der Befreiung des Konzentrationslagers vor 60 Jahren gedacht. Natürlich sind solche Akte des Gedenkens auch eine Verneigung vor den Millionen Opfern des Holocaust, eine notwendige Gesteder Trauer. Aber in erster Linie geht es um das Erinnern, um die Mahnung. Dies ist bitter nötig, wie die Vorgänge in Dresden zeigen. Am Grad der Beklemmung, auch 60 Jahre nach Auschwitz hässliche braune Flecken auf dem scheinbar gesäuberten Kleid der Demokratie entdecken zu müssen, kann jeder Bürger seine eigene Betroffenheit ablesen. Die Betroffenheit über damals und heute. Niemand ist in diesem Zusammenhang übrigens daran gehindert, Zivilcourage zu zeigen und somit einen persönlichen Beitrag zu leisten, den Anfängen zu wehren. Allerdings müssen, bei aller Empörung über die verblendeten Neonazis mit ihrer Politik der gezielten Nadelstiche in die Entzündungsherde der Nation, die Maßstäbe gewahrt bleiben. Jegliche Überreaktion (neuer NPD-Verbotsantrag, Verschärfung des Versammlungsrechts) dient nicht der demokratischen Gesellschaft, sondern den Interessen der Rechten. Genau das ist ja ihr Ziel: Den Staat zu reflexhaftem Verhalten zu zwingen - und damit vorzuführen. Am Umgang mit Extremisten zeigt sich, wie reif die Bundesrepublik geworden ist, was Politik und Bevölkerung aus den bitteren Erfahrungen gelernt haben. Die simple Gleichung, hier die Guten, dort die Bösen, trägt jedenfalls nicht. Neonazis sind zutiefst verunsicherte Menschen, die nach Führung und Orientierung lechzen, und mit ihrer eigenen Unzulänglichkeit nicht klar kommen. Dem braunen Sumpf kann nur der Boden entzogen werden, wenn die Ursachen der seelischen Verirrungen beseitigt werden. Wenn sich die Gesellschaft auch um ihre Ränder kümmert, wenn echte Chancengleichheit hergestellt wird. Das muss den Staat nicht daran hindern, hart durchzugreifen, wo Grenzen überschritten werden. Nicht hektisch, sondern souverän. Das gilt auch für die Medien: Nicht jeder Aufmarsch ist ein Spektakel, das groß ausgeleuchtet werden muss. Aber jeder Aufmarsch ist ein Anlass, energisch dagegen anzugehen. nachrichten.red@volksfreund.de

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