"In England bin ich fremd" - Wie ein junger Erstwähler in Schottland das Referendum beurteilt

Edinburgh · Er ist 17 Jahre alt und Erstwähler. Dank der zum Referendum eingeführten Absenkung des Mindestwahlalters von 18 auf 16 Jahre kann Benjamin Schneidt-Frazer über die Zukunft Schottlands abstimmen. Im Gespräch mit dem TV schildert er den Zwiespalt bei seiner Entscheidungsfindung - sein Schwanken zwischen Gefühl und Verstand.

 Wird er heute für die Unabhängigkeit stimmen – oder dagegen? Benjamin Schneidt-Frazer im schottischen Hochland. TV-Foto: Katharina Strobel

Wird er heute für die Unabhängigkeit stimmen – oder dagegen? Benjamin Schneidt-Frazer im schottischen Hochland. TV-Foto: Katharina Strobel

Edinburgh. Benjamin Schneidt-Frazer ist erst 17. Gerade für seine Generation hat der Ausgang des Referendums enorme Folgen. Gerade seine Generation kann die Folgen kaum abwägen. Harte Monate der Entscheidungsfindung liegen hinter dem Deutsch-Schotten: Eine Achterbahnfahrt aus Momenten tiefer Verunsicherung und dem Gefühl einer historischen Chance.
Als das schottische Parlament im Juni 2013 das Gesetz zur Senkung des Mindestwahlalters beim Referendum durchwinkt, beginnt für Benjamin Schneidt-Frazer ein langer, mühsamer Weg. Der 17-jährige Edinburgher, dessen deutsche Mutter und schottischer Vater sich Mitte der 1990er Jahre als Studenten kennenlernten, ist ein leidenschaftlicherer Bergsteiger, der keine Gipfelbesteigung scheut. Auch die nicht immer leichte Gratwanderung im täglichen Leben zwischen der Kultur seiner Mutter und der seines Vaters meistert er souverän. All das ist nichts im Vergleich zu dem langen Weg auf der Suche nach der richtigen Antwort, die der 17-jährige Schüler seit Monaten sucht.
Das Mindeswahlalter-Gesetz sei ein taktischer Zug der Schottischen Nationalpartei (SNP) gewesen, glaubt Benjamin Schneidt-Frazer. "Die SNP baut auf den Braveheart-Effekt", erklärt er, sie setze auf die Leidenschaft der Jugend, die sich mit dem schottischen Nationalhelden identifiziere und bereit sei, sich voller Hingabe in die Nationalstaatlichkeit zu stürzen, koste es, was es wolle. Sollte es tatsächlich ein taktischer Schachzug gewesen sein, hat die Partei Jugendliche wie Benjamin unterschätzt. Die jüngsten Wahlteilnehmer wissen, dass es um ihre Zukunft geht.
Anders als jede andere Wahl ist die Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands nicht mehr zu revidieren. Was die vier Millionen Wahlberechtigten heute entscheiden, ist verbindlich. So weit, so klar. Wie eine unabhängige Zukunft im Detail aussieht, bleibt aber nebulös. Viele Fragen sind unbeantwortet. Auf welcher Grundlage sollen die Wähler eine Entscheidung treffen?
Internetrecherchen, Gespräche mit Familie und Freunden, Diskussionsrunden in der Schule, öffentliche Debatten - so lautet die Antwort für Benjamin Schneidt-Frazer, der in Edinburgh sein letztes Schuljahr absolviert. Danach will er in Schottland studieren. Die dortigen Unis genießen einen hervorragenden Ruf und sind - anders als die Hochschulen in England - gebührenfrei.
Wird es das Gratis-Studium auch in einem unabhängigen Schottland geben? Wenn ja, wer wird es finanzieren? Es sind konkrete Fragen wie diese, die Benjamin beschäftigen: Müssen wir mehr Steuern zahlen? Wie lange reicht das Öl? Wie effektiv ist unsere Wirtschaft? Um Antworten zu finden, nimmt der 17-Jährige sich das schottische Weißbuch vor, ein Dokument enormen Ausmaßes, das den Fahrplan in die Unabhängigkeit beschreibt. Er besucht öffentliche Debatten, in denen Politiker, Akademiker, Intellektuelle und Vertreter von Wirtschaft und Finanzen ihre Positionen vertreten. Auch in der Schule diskutieren die Schüler zahlreiche Male über die Vor- und Nachteile einer möglichen Unabhängigkeit.
Überzeugt haben den 17-Jährigen weder die einen noch die anderen Argumente. "Mich beunruhigt, dass keiner weiß, ob es wirtschaftlich klappt", sagt er, "es liegen nicht genügend Daten vor". Es sind diese fehlenden Fakten, die dem Deutsch-Schotten auf seinem Weg zu einer endgültigen Entscheidung jede Hoffnung nehmen: "Noch nie habe ich eine so tiefe Verzweiflung gefühlt", erklärt er, "weil ich die Antwort einfach nicht wissen kann." Zugleich spürt er etwas, das er als "unsere starke Identität" bezeichnet und das ihn in Richtung des "Ja" zur Unabhängigkeit drängt. "Ein gefühltes, emotionsgesteuertes Ja", fügt er hinzu, "kein Ja des Verstandes."
"Wir haben eine andere Kultur, eine andere Sprache als die Engländer", erläutert Schneidt-Frazer, "wir tragen Kilts, spielen Dudelsack und essen Haggis." Er selbst sieht sich als Schotte und Deutscher, aber nicht als Brite. In England fühle er sich fremd, wie ein Tourist vielleicht. Warum sollten England, Wales, Nordirland und Schottland in einer Union vereint sein, wenn sie so unterschiedlich ticken? Viel mehr noch als die kulturellen Unterschiede stört den 17-Jährigen das politische Ungleichgewicht. "Warum sollte Westminster für uns Politik machen?", fragt er und verweist darauf, dass Schottland nur einen einzigen Abgeordneten der Regierungspartei David Camerons stellt.
Die Ende der 1990er Jahre eingeführte Teilunabhängigkeit (devolution) nördlich der englischen Grenze ermöglicht den Schotten zwar Entscheidungskompetenzen in Bereichen wie Landwirtschaft, Bildung, Gesundheit und Umwelt, aber vielen geht das nicht weit genug. Zumal die Regionalregierung das Land positiv beeinflusst und populäre Gesetze - wie die gebührenfreien Unis - ins Leben gerufen hat. Auch Benjamin glaubt, dass eine eigene Regierung bessere Entscheidungen für das Land treffen könnte, weil sie näher am Volk dran ist. Wenn da nur die ungeklärten Detailfragen nicht wären.
Die enormen Folgen eines Ja, nicht nur für Schottland und Großbritannien, sondern auch für den Rest Europas vermag niemand richtig abzuschätzen. In Brüssel rechnet man damit, dass Großbritannien im Falle eines Votums für die Unabhängigkeit über Monate mit internen Verhandlungen beschäftigt ist, während sich um Europa herum die Krisen vertiefen und die EU selbst die Aufmerksamkeit ihrer Mitglieder verlangt.
In Schottland dominiert die Unabhängigkeitsdebatte mittlerweise das Tagesgeschäft. "Jedes Gespräch kommt am Ende immer auf die eine Frage zurück", berichtet Benjamin, "die Stimmung ist seit einigen Wochen total angeheizt. Überall wird diskutiert." Er selbst ist noch immer unentschlossen. "Mein Verstand sagt Nein, aber meine Gefühle schlagen für ein unabhängiges Land", sagt er. Auch seine Familie ist gespalten. Der Vater, ein Schotte, wünscht sich schon lange ein Ende der Westminster-Dominanz. Aber er fühlt sich auch der Labour-Partei verpflichtet, die für den Verbleib im Königreich plädiert. Seiner Mutter, einer Bayerin, ist jede Art von "Nationaltümelei" suspekt, aber nach 20 Jahren in Schottland versteht sie die schottische Perspektive. Dennoch: Als Pragmatikern setzt sie auf Nummer sicher und stimmt mit Nein.
Benjamin und sein bester Freund wollen am 18. September die Schuluniform zu Hause lassen und im Kilt zur Schule gehen. Sie wollen dem Tag die Bedeutsamkeit verleihen, die er für sie hat. Es ist der Tag, an dem sie schottische, britische und europäische Geschichte schreiben.
Das Ergebnis der Abstimmung soll am Freitagmorgen vorliegen. Fortlaufende Informationen zum Thema finden Sie auf:
volksfreund.de/schottlandExtra: Kindernachricht

Die einen schwenken Fähnchen, auf denen "JA" geschrieben steht. Die anderen tragen Schilder mit "NEIN, DANKE" durch die Straßen. Solche Bilder kann man gerade in Schottland sehen. Denn die Menschen dort sollen heute bei einer Abstimmung mit Ja oder Nein antworten. Die Frage lautet: Soll Schottland ein eigener Staat sein? Bislang gehört Schottland zu einem größeren Staat. Er heißt Vereinigtes Königreich und besteht aus mehreren Teilen. Der größte ist England. Dann gibt es noch Nordirland, Wales (gesprochen: Wäils) und eben Schottland. Zusammen heißen die Teile Großbritannien. Sie haben eine gemeinsame Regierung in der Stadt London und eine gemeinsame Königin: Elizabeth II. In Schottland wollen viele Menschen nicht mehr zum Vereinigten Königreich gehören. Sie wollen, dass Schottland ein eigenes Land wird und eine eigene Regierung wählen kann. Viele andere wollen das aber auch nicht. Nun sind viele Menschen in ganz Europa gespannt, wofür die Mehrheit der Schotten sich heute entscheidet. dpa

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