"Knapp, aber es hat gereicht"

BERLIN. Horst Köhler war scheinbar ganz bei sich, als der Beifall um ihn herum brandete. Angela Merkel und Edmund Stoiber erhoben sich als erste und beklatschten den neuen Bundespräsidenten, was das Zeug hielt. Aber der 61-jährige Wirtschafts- und Finanzexperte blieb gerührt und tief bewegt zwischen den beiden Unionsoberen sitzen.

Zaghaft, beinah schüchtern stand Horst Köhler nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses auf, als müsse er noch verarbeiten, was an diesem Sonntag um 13.55 Uhr nach dem ersten und einzigen Wahlgang zur Gewissheit geworden war: Er wird der neunte Bundespräsident. Als der Applaus rhythmische Züge annahm, drehte er sich kurz zu den Wahlfrauen und Wahlmännern um, verneigte sich, winkte und lächelte. Am Ende wäre es fast noch spannend geworden. Union und FDP müssen bangen, SPD und Gründe dürfen hoffen. So hatten Beobachter die Lage schon vor Wochen analysiert. Und das Ergebnis bestätigt die These. 622 Delegierte konnten Union und Liberale in die Bundesversammlung schicken. Aber nur 604 machten tatsächlich ihr Kreuzchen bei Horst Köhler. Das ist gerade eine Stimme über der absoluten Mehrheit."Nicht gerade ein machtvolles Signal"

Zwar stand die rot-grüne Mitkonkurrentin Gesine Schwan von vorn herein auf verlorenem Posten, weil in einem dritten Wahlgang notfalls auch die einfache Mehrheit der Stimmen genügt hätte. Aber die Tatsache, dass die resolute Politikprofessorin von der Universität Frankfurt/Oder mit einem Ergebnis von 589 Stimmen (zehn mehr als SPD, Grüne und PDS zusammen) auch im schwarz-gelben Lager "wilderte", darf als satter Achtungserfolg gelten. "Da hatten einige wohl alte Rechnungen mit Frau Merkel offen", spottete Grünen-Fraktionschefin Krista Sager. "Nur eine Stimme über den Durst, das ist nicht gerade ein machtvolles Signal." Dabei hatte ein unplanmäßiges Ereignis am Vorabend der Wahl eigentlich für zusätzliche Motivation bei den Köhler-Anhängern sorgen sollen: Ebenso wie die SPD bat auch die Union ihre Wahlvertreter zu einem fröhlichen Beisammensein. Im Berliner Palais am Funkturm wurde einmal mehr über die "politische Zeitenwende" (Edmund Stoiber) philosophiert. Auch CDU-Chefin Merkel sah in der absehbaren Wahl Köhlers "ein Zeichen der bürgerlichen Parteien in Deutschland gegen Rot-Grün". Einem Gast ging diese politische Sichtweise allerdings erheblich gegen den Strich. So ergriff Altbundespräsident Richard von Weizsäcker plötzlich das Wort, um Merkel zu mahnen, dass das Amt des Bundespräsidenten der "absoluten Überparteilichkeit" verpflichtet sei. Merkel rettete die Situation, indem sie darauf beharrte, auch weiterhin das sagen zu dürfen, "wie wir das alles verstehen". Viele Anwesende, die auf von Weizsäcker nicht gut zu sprechen sind, waren sich hinterher einig: "Etwas Besseres konnte uns nicht passieren. Das schweißt zusätzlich zusammen." Pustekuchen. Mit dem überraschend knappen Wahlausgang verflüchtigt sich die ganz große Euphorie bei Union und FDP. "Hätte ich nicht gedacht, aber es hat gereicht", lautete die gängigste Einschätzung. Der CSU-Politiker Horst Seehofer nahm die Sache sportlich: "Ob wir nun mit Vier oder Fünf zu Null gewinnen…" Gleich mehrere Schönheitsfehler steuerte Wolfgang Thierse bei. Der außergewöhnliche Anlass hatte dem Bundestagspräsidenten offenbar so zugesetzt, dass ihm als Sitzungsleiter ein Versprecher nach dem anderen unterlief. Erst bezeichnete der SPD-Politiker die Favoritin seines Lagers als "Herrn Professor" Gesine Schwan, dann vergaß er schlicht, den Tagesordnungspunkt "Kurze Ansprache des neu gewählten Staatsoberhaupts" aufzurufen. Das sorgte auch bei Horst Köhler für Heiterkeit. In seiner etwa zehnminütigen Ansprache suchte der ehemalige Chef des Internationalen Währungsfonds das Vorurteil abzubauen, wonach es die Republik nur mit einem kühlen Ökonomen zu tun bekommt: Er wolle ein Präsident "aller Deutschen" sein, versicherte Köhler. Tatsächlich halte er eine "grundlegende Erneuerung des Landes für notwendig"."Der Aufschlag war gut"

Der Globalisierung könne sich niemand entziehen. Nach Köhlers Auffassung muss sie aber auch "den Armen zu Gute kommen". Selbst das rot-grüne Herzblutthema, die verstärkten Anstrengungen für eine kinderfreundliche Gesellschaft, sparte der Rau-Nachfolger nicht aus. Und zum ersten Mal lobte Horst Köhler öffentlichseine Konkurrentin, die viel Engagement bewiesen habe: "DerWettbewerb zweier Seiteneinsteiger hat dem Land sicher nicht geschadet." Gesine Schwan war auch die erste aus den rot-grünen Reihen, die zu Köhler eilte, um dem Wahlsieger zu gratulieren. Sozialdemokraten und Grüne zollten dem frisch gebackenen Staatsoberhaupt für seine Rede Respekt. "Er weiß, wovon er spricht", meinte die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis. Allerdings müsse er seinen Anspruch, "nicht nur Präsident der Reformer zu sein", erst noch beweisen. Auch SPD-Chef Franz Müntefering befand: "Der Aufschlag war gut." Ein paar Meter weiter in der Lobby des Reichstages gab der Mainzer Parteienforscher Jürgen Falter seine Statements ab: "Die Wahl Köhlers war ein notwendiger, aber nicht hinreichender Schritt für den Erfolg der Union bei der Bundestagswahl 2006." Bei seinem Scheitern, so Falter weiter, hätte sich die Partei allerdings schon morgen eine neue Vorsitzende suchen müssen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort